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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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lebten. Leuchtende Kristallklumpen, wie kleinere Versionen des Mittelpunkts, waren in jede Wand eingelassen. Das Licht tänzelte in ihren rauchigen Tiefen und spiegelte sich kräuselnd auf ihren Gesichtern wider.
    Sie hatte weiterschlafen wollen. Sie hatte geträumt, sie wäre wieder in Agora, bei ihren Freunden. Mark hatte in dem Traum seinen Vater umarmt, Ben und Theo hatten getanzt, und Laud hatte gelächelt und sie an die Hand genommen. Nie hätte sie geglaubt, dass sie sich nach den überfüllten Straßen von Agora und dessen korrupten, habgierigen Menschen sehnen würde. Aber dort verstand sie wenigstens das Verhalten der Menschen, was sie antrieb und was ihr Leben ausmachte.
    Hier unten hingegen ging es zu wie in einem Irrenhaus.
    Der Chor hatte wieder zu singen begonnen, eine rauere Melodie dieses Mal, die sich plötzlich mit durchdringend hohen Tönen emporschraubte. Dabei konnte sie nicht schlafen; stattdessen war sie aufgestanden und hatte sich ihr frisch gewaschenes Kleid und ihre Schürze angezogen. Sie war froh, dass sie es dem Dirigenten ausgeredet hatte, ihr naruvanische Kleidung zu geben. Allerdings verstand sie allmählich, warum sie sich auf diese Weise kleideten – in einer Welt aus Felsen und gedämpftem Licht hoben sich nur die hellsten Farben ab.
    Nachdenklich schaute sie zu der Stelle hinüber, wo sie ihr Bündel abgelegt hatte, und kniete dann dort nieder, um es zu öffnen. Es war nahezu leer – ihr Proviant war schon lange aufgebraucht, und das Jagdmesser, das sie Wulfric, ihrem Führer aus Giseth, abgenommen hatte, steckte nach wie vor unbenutzt in seiner Scheide. Doch unter Stoffstreifen, die als Verband dienen konnten, stieß sie auf das, wonach sie gesucht hatte. Sie fand den Brief von ihrem Vater, zusammengerollt und mit einer Schleife festgebunden, eine winzige Messingwaage und einen kleinen, unregelmäßigen Kristall aus dem gleichen rauchigen Material wie die widerhallenden Kristalle, die hier die Wände sprenkelten. Diesen letzten Gegenstand starrte sie eine Weile an.
    »Vielleicht …«, murmelte sie vor sich hin. Sie hielt ihn sich näher vor den Mund und versuchte sich leise an einer Melodie. Sie hatte nicht mehr gesungen, seit sie als kleines Mädchen im Waisenhaus gewesen war, und zudem war ihre Stimme vom Schlafmangel immer noch heiser. Aber nach einer Weile brachte sie zumindest einige passable Töne hervor. Doch es waren keinerlei verborgene Stimmen zu vernehmen – dieser Kristall war mit Sicherheit naruvanisch, barg allerdings keine Resonanz.
    »Tja, das wäre auch zu einfach gewesen«, sagte sie zu sich selbst, ließ Kristall und Brief wieder in ihre Schürzentasche gleiten und stand auf. Bevor sie die Waage weglegte, hielt sie inne und fuhr mit der Hand über die beiden in die Waagschalen gravierten Symbole. Das eine, eine aus einem aufgeschlagenen Buch herauswachsende Lilie, war ein Symbol, das sie sehr gut kannte. Es war auch in den Messingring graviert, den sie an ihrem Finger trug – ihren Siegelring, ihr persönliches Zeichen. Das einzige an ihr, was sie nach wie vor als Agoranerin kennzeichnete. Das andere, ein Seestern, war Marks Symbol.
    Mark …
    Plötzlich überfiel Lily Traurigkeit. Sie hatte Mark nun seit fast einem Monat nicht mehr gesehen, seit der Orden der Verlorenen ihn verschleppt hatte. Sie war eine weite Strecke gereist, um ihn zurückzuholen, war ihrem Ziel bis heute jedoch nicht näher gekommen.
    Sie holte tief Luft, ließ die Waage in ihre Schürzentasche gleiten und schob den schweren Samtvorhang vor der Öffnung der Höhle beiseite, die dem Dirigenten als Zuhause diente. Für Zaudern war keine Zeit. Nach wie vor hatte sie keine Ahnung, wo Mark sein könnte, aber wenn dieses Orakel wirklich so viel wusste, wie Septima und Tertius zu glauben schienen, dann war es am besten, bei ihr mit dem Fragen anzufangen.
    Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, wie jemand, der die Bewohner eines Reichs wie Naru beeindruckte, sein würde.
    Als Lily aus der Höhle trat, verklangen gerade die letzten Töne des Lieds, das der Chor sang. Die Chorsänger schlenderten bereits von ihren Plattformen hinab und unterhielten sich in Gruppen von zwei oder drei. Da sie allesamt Abstand voneinander hielten, war dieses Stimmengewirr laut; jede Unterhaltung versuchte die andere zu übertönen, kein Gedanke blieb privat.
    Noch überraschender war ihrer aller Reaktion auf Lily. Diese Naruvaner waren doch angeblich so besessen von Wissen, von Neuigkeiten, und sie, Lily,

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