Das Land des letzten Orakels
keine Hoffnung, keine Zukunft. Glauben Sie, diese Leute gingen bloß in den Tempel? Meine Almosenhäuser sind auch voll von ihnen. Wenn Inspektorin Poleyns Lakaien einen Streit vom Zaun brechen, dann haben sie es auf die Schwachen abgesehen, und keinen Menschen kümmert das. Wenn Nick mit von der Partie ist, kann wenigstens jeder sehen, dass die Eintreiber ihre Waffen ziehen.« Er beugte sich näher vor. »Begreifen Sie nicht, dass ich nicht Ihr Feind bin, Mark? Ich bin vielleicht nicht perfekt, nicht so unschuldig wie« – er legte eine Pause ein – »so unschuldig wie Lily. Aber ich könnte Ihnen helfen. Hier wird der Direktor Sie nie finden.«
»Warum sind Sie an mir interessiert?«, murmelte Mark. »Sie haben meine Geschichten, was immer sie Ihnen nutzen werden. Kein Mensch wird ein Wort davon glauben. Und Sie haben Cherubina; sie gibt ein viel besseres Aushängeschild ab.«
Crede zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Sie ist zweifellos hübsch, und das schadet nicht.« Er setzte ein Lächeln auf, das in Mark deutliches Unbehagen auslöste. »Aber sie war nicht Lilys Freundin. Anders als Sie, Mark.« Crede beugte sich vor. »Verstehen Sie nicht? Lily ist der Schlüssel. Sie ist das Idealbild – das Symbol dessen, wofür ich kämpfe, ganz gleich, was die Feiglinge, die den Tempel betreiben, glauben.« Crede richtete sich auf. »Sie hätte die Notwendigkeit einer Revolution erkannt, und das wissen meine Anhänger. Ich bin nur ihr Sprachrohr. Sehen Sie mich doch an, Mark, so einem Gesicht wie meinem würde niemand folgen.« Crede berührte seine Wange. »Sie alle wissen, dass ich mal ein Ganove war. Wenn das Direktorium gestürmt wird, wird das in Lilys Namen geschehen, nicht in meinem.«
Mark starrte diesen Mann an, der vorgab, in Lilys Namen in den Krieg zu ziehen, und er spürte, wie seine Wut verrauchte und in Verachtung umschlug.
»Und bis dahin schicken Sie Nick los, mit einem Pflasterstein in der Hand?«, sagte Mark bitter.
Credes Lächeln verblasste. »Ich habe jetzt keine Zeit für so einen Starrsinn, Junge«, sagte er kühl. »Die Revolution wartet nicht auf jene, die sich nicht entscheiden können.«
»Sie begreifen es nicht, oder?«, entgegnete Mark hitzig. »Ich interessiere mich nicht für die Revolution. Ich will bloß meine Freunde wiederhaben.«
»Was für Freunde?«, erwiderte Crede scharf. »Letzten Endes sind die einzigen, die uns beispringen, diejenigen, die unsere Träume teilen.« Er fixierte ihn mit starrem Blick. »Es gibt viele, die die meinen teilen, Mark. Und bald werden wir uns erheben.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«
Zum ersten Mal war Mark seiner Meinung.
Als Mark in sein sicheres Haus zurückkehrte, war er tief in Gedanken versunken. Es war ein langer Weg gewesen – die Schlägerei mit den Eintreibern war immer noch im Gange und hatte sich auf mehrere Straßenzüge ausgedehnt. Mark hatte einen Umweg einlegen müssen, um nicht hineinzugeraten. Doch er hatte kaum wahrgenommen, wo er entlangging. Credes Worte hatten ihn stärker verwirrt, als er hätte zugeben wollen. Er dachte immer noch darüber nach, als er seine Tür aufmachte, froh, einen Moment für sich zu haben.
»Hallo, Mark«, begrüßte ihn eine Stimme.
Mark blieb im Türrahmen stehen. Sein Vater saß auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Er saß auf Cherubinas altem Stuhl mit dem Gesicht zur Wand.
»Hallo, Dad«, sagte Mark, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Hat Benedicta …«
»Sie hat alles getan, worum du sie gebeten hattest«, sagte Pete, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme zitterte leicht. »Dass sie mich in ein Gespräch verwickeln sollte, hat sie nicht zugegeben. Das habe ich selbst herausgefunden.«
Mark nickte. Entschuldigen würde er sich nicht. Er hatte die Absicht gehabt, seinem Vater die Sorge zu ersparen, doch er hatte getan, was getan werden musste.
»Ich war bei Crede«, begann er seine Erklärung. »Ich weiß, dass du gesagt hast, ich sollte mich versteckt halten, aber …«
»Du warst nicht hier.« Pete stand auf und drehte sich um. Seine Augen waren gerötet. »Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich die Tür aufmachte und du nicht da warst? Als ich feststellte, dass du wieder verschwunden warst? Weißt du, wie es sich angefühlt hat, diese letzten Jahre?« Seine Stimme wurde lauter, verzweifelter. »Begreifst du denn nicht, dass der Direktor höchstpersönlich hinter dir her ist? Warum hast
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