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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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ihn zu verstehen. »Wir verbringen unsere Zeit mit der Suche nach Belanglosigkeiten, nach unzusammenhängenden Informationsfetzen, und wir handeln damit untereinander. Doch ihre wahre Bestimmung liegt letzten Endes darin, daraus das Lied zu formen. Wir nehmen die Geheimnisse, die wir entdeckt haben, und verweben sie zu einer Harmonie, als eine Opfergabe für unsere Herrscherin. Der Mittelpunkt bündelt dann alles und kanalisiert es bis hinunter zum Resonanzthron, wo das Orakel die Informationen aufnimmt. Sie verbannt wertloses Geplapper in die Kakophonie der äußeren Höhlen und nimmt unsere Lieder auf, die reich an wahrem Wissen und Weisheit sind. Vor ihr bleibt nichts verborgen. Gar nichts.«
    Lily schwieg. Je mehr sie über das Orakel erfuhr, desto weniger gefiel ihr die Vorstellung, ihr zu begegnen. Wie viele Mal schon in ihrem kurzen Leben hatte sie frustriert aufgeschrien? Wie viele Worte der Bitterkeit und des Zorns gesagt und wie wenige Worte der Liebe und Freundschaft gesprochen? Sie hoffte, dass die Waage zu ihren Gunsten ausschlagen würde. Jemanden zu treffen, der jedes Wort kannte, das sie jemals ausgesprochen hatte, war eine irritierende Vorstellung.
    »Wenn sie alles weiß, warum braucht sie dann euch?«, fragte Lily, darauf hoffend, nicht allzu taktlos zu klingen.
    Der Dirigent runzelte die Stirn. »Der Chor und ich haben eine von uralten Gesetzen festgelegte Bestimmung. Wir bewahren ihre Harmonie, halten das Lied am Fließen und beschützen ihre körperliche Gestalt. Im Gegenzug werden wir ernährt, haben es angenehm und können unendlich viele Wahrheiten aufspüren. Wir kennen unsere Pflichten; in unserem Land gibt es keine Unruhen. Wir haben wenig Bedarf an starken Empfindungen, sie sind … gefährlich.« Der Dirigent wandte sich ein wenig ab, seine Stimme wurde leiser und nachdenklicher. »Und so wird es auch bleiben bis zum Tag des Urteils.«
    Lily war im Begriff nachzufragen, was er damit meinte, als er plötzlich stehen blieb und in den Stollen deutete.
    »Keine Fragen mehr«, sagte er. »Wir sind da.«
    Vor sich sah Lily einen in die Wand eingelassenen steinernen Torbogen. Vor diesem hing ein dicker Vorhang aus dunklem Samt, und auf einer Seite baumelte eine mit Troddeln verzierte Kordel herab. Der Vorhang flatterte, als wehe hinter ihm ein starker Wind. Die Luft auf dieser Seite des Vorhangs war aber wie immer vollkommen unbewegt.
    »Gehen Sie und besuchen Sie das Orakel, mein junges Wunder«, sagte der Dirigent, als er den Torbogen erreicht hatte. »Aber geben Sie acht, sie wird alles über Sie wissen.«
    Lily wandte sich dem Vorhang zu. Sie rang mit dem Verlangen, ihn aufzuschieben oder zurück zum Mittelpunkt zu rennen, zu dem Wahnsinn, den sie wenigstens halbwegs begriff. Ein seltsamer Schauer durchfuhr sie, und sie merkte, wie sie sich anspannte.
    »Meine Gedanken kennt sie nicht«, sagte Lily mit mehr Zuversicht, als ihr innewohnte. »Ich werde etwas haben, mit dem ich sie überraschen kann.«
    Der Dirigent begegnete ihrem Blick. Nicht zum ersten Mal entdeckte sie eine tiefe Traurigkeit in diesen nervösen Augen.
    »Nein, Lily. Sogar Ihre Gedanken sind nicht vor ihr verborgen. Sie wird auch diese kennen. Sie hat sie schon immer gekannt.«
    Unwillkürlich trat Lily einen Schritt zurück. »Wie das?«, flüsterte sie. »Das ist unmöglich. Hat sie den Alptraum geritten? Hat sie mich ausspioniert?«
    Der Dirigent schüttelte den Kopf. »Nein, Kind, sie lauscht dem Hohelied.«
    Lily ballte die Hände zu Fäusten. Jedes Mal, wenn sie glaubte zu verstehen, was hier vor sich ging, wartete der Dirigent mit einer neuen Geschichte auf. Sie biss die Zähne zusammen.
    »Und was ist das ›Hohelied‹?«, fragte sie spitz. »Werden Sie mir eigentlich jemals erzählen, was hier wirklich vor sich geht?«
    Alarmiert wich der Dirigent zurück. Lily schaute auf ihre Hände hinunter und stellte nicht weniger erschrocken fest, dass die Knöchel ihrer geballten Fäuste weiß vor Anspannung waren. Was hatte diesen Ausbruch verursacht? Sie musste nervöser sein, als sie selbst gedacht hatte.
    »Es … es tut mir leid«, murmelte sie. »Sie haben mir so viel erzählt, und das ganz ohne Gegenleistung. Es ist bloß … es ist so viel zu begreifen …«
    Besänftigt nickte der Dirigent. »Ich verstehe. Sogar mir fällt es schwer, an das Hohelied des Flüsterns zu glauben, und dabei habe ich es selbst schon gehört. Es ist das leiseste, zugleich aber mächtigste Lied. Man hört es nur in den tiefsten Höhlen;

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