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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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seine Musik setzt sich aus verborgenen Gedanken, Sehnsüchten und Träumen zusammen. Wie es scheint, hinterlassen sogar Gedanken ein Echo.« Er legte eine Pause ein, während der er sich die Nase rieb. »Wir wechseln uns alle beim Lauschen ab. Eine angenehme Erfahrung ist das nicht; selbst die Neugierigsten brennen nach ein paar Stunden darauf, in den Mittelpunkt zurückzukehren. Es schwingt etwas darin mit, was unsere Seelen verstört. Nur das Orakel hat die Kraft, jeden Tag in innigem Austausch mit den Seelen von Millionen zu verbringen und sich ihr ganzes Wesen von der Musik der Menschlichkeit erfüllen zu lassen.« Der Dirigent wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Selbst bei ihr fordert das seinen Tribut. Selbst sie kann nicht jedem Geist gleichzeitig lauschen. Denken Sie daran.« Er langte nach der Kordel, um den Vorhang aufzuziehen. »Ach ja, und da ist noch etwas. Wenn Sie sich ihrem Thron nähern, tun Sie das auf den Knien.«
    Lily runzelte die Stirn. Noch war ihr Ärger nicht verraucht. »Warum verlangt sie das? Sie ist nicht meine Herrscherin.«
    »Es hat nichts mit dem zu tun, was sie will«, erwiderte er leise. Zu Lilys Überraschung lächelte er plötzlich, allerdings eher wehmütig. »Sie will überhaupt nichts. Außer einem, vielleicht. Und ich bezweifle, dass Sie es sein werden, die ihr das gibt.«
    Er zog an der Kordel. Dahinter erkannte Lily nun einen steinernen Korridor, glatter als die meisten zuvor und erhellt durch ein sonderbar milchiges Licht.
    Einen Moment lang wandte sich Lily dem Dirigenten zu. Sie wusste nicht recht, ob sie sich bei ihm dafür bedanken sollte, dass er sie hierhergeführt hatte, oder es ihm vorwerfen sollte, sie so unvorbereitet loszuschicken. Doch der Dirigent hatte sich bereits abgewandt und mied den Blick in den Korridor. Was immer dahinter lag, er wollte es nicht sehen.
    »Danke«, sagte sie. Er nickte kurz.
    Lily trat in den Korridor.
    Lily spürte eine plötzliche, unerwartete Brise. Vielleicht war es auch nur eine Vibration, aber die Luft in diesem Korridor bewegte sich, drang herein und heraus wie der Atem eines großen Tieres. Auch das Licht schien sonderbar; es kam von einer Quelle hoch über ihr, erleuchtete jedoch auch den Raum überall um sie herum.
    Lilys einzige Begleitung war das Geräusch ihrer Stiefel auf dem Fels. Sie versuchte sich einen Plan zurechtzulegen, wie sie vorgehen und wie sie das Orakel ansprechen würde. Doch jeder Plan scheiterte an dem Allwissen des Orakels. Sie würde sich nicht vorstellen müssen, denn das Orakel würde sie bereits kennen. Sie konnte nicht sagen, dass sie auf der Suche nach Mark war, denn auch das würde das Orakel bereits wissen. Es fühlte sich an, als wäre alles, was sie tun konnte, bereits für sie entschieden worden. Für Lily, die so stolz auf ihre Unabhängigkeit war, war dies ein niederschmetterndes Gefühl.
    Doch sie ging weiter. Vor sich erkannte sie, dass der Durchgang endete und dahinter etwas glänzte. Sie bewegte sich vorwärts, um zu sehen, was es war. Dabei schirmte sie die Augen gegen den heller und intensiver werdenden Lichtschein ab.
    Taumelnd stand sie mit einem Mal an der Öffnung des Stollens, und nun verließen sie all ihre Sinne.
    Die Höhle war noch viel größer als die Kammer des Mittelpunkts und in ein sonderbar grelles Licht getaucht, das sich über die Wände ergoss. Lily vermochte den felsigen Weg zu ihren Füßen kaum auszumachen, sah jedoch immerhin so viel, dass sie erkennen konnte, dass er schmal war und über eine breite Felsspalte führte. Es war eine tiefe Kluft, auf deren Grund mörderisch scharfe Stalagmiten emporragten. Die schier endlose Höhe der Felskammer raubte Lily den Atem. Sie wollte einen Schritt vortreten, doch dabei drang ihr wieder jenes furchtbare Summen aus dem Mittelpunkt in die Ohren, und sie hatte das Gefühl, vor eine Wand zu laufen. Es war nun lauter, nicht mehr musikalisch, sondern pulsierend wie ein Herzschlag. Lily stockte der Atem, und sie spürte, wie ihr ein heftiger Schmerz in den Kopf fuhr, als das Licht noch intensiver wurde.
    »Sprich.«
    Ein Wort. Ein einziger Laut, doch der durchschnitt die Geräusche wie ein Messer – kalt und scharf. Lily spürte, wie ihr Mund sich öffnete, ohne dass sie ihn kontrollieren konnte.
    Vor ihr verblasste das Licht, und das Summen verstummte. Und Lily konnte das Orakel nun sehen.
    Zunächst konnte sie nur flüchtige Blicke erhaschen, Blicke auf den Rand ihres Granitthrons. Er stand auf einer

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