Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
nichts, was ich nicht schon gehört hätte«, gab ich bissig zurück. »Sicher bist du nicht hergekommen, nur um mir das mitzuteilen. Sag mir genau, was sie tun kann und was nicht!«
Alysses Stimme veränderte sich. Sie tadelte nicht mehr; nun versuchte sie, mich zu überzeugen, und in ihrer Überzeugung flammte Verzweiflung auf. Sie sprach langsam, und jedes Wort hatte ein schreckliches Gewicht. »Das Grab ist eigentlich keine Barriere zwischen den Lebenden und den Toten, so wie die Hisafs es glauben. Das ist ihr Irrtum. Keine Barriere, kein Burggraben, keine Befestigung einer Burg. Du musst ein anderes Bild in deinen Gedanken schaffen. Jene, die leben, und jene, die tot sind, sind verbunden, wie in einem riesigen Netz. Wie kann es anders sein, wenn die Toten einst gelebt haben und die Lebenden sich eines Tages den Toten anschließen müssen?«
»Mutter Chilton hat von einem ›Netz des Seins‹ gesprochen. Aber ich verstehe nicht, wie…«
»Natürlich verstehst du nicht, wie– du bist nur ein Hisaf, und kein besonders begabter. Hör einfach zu, Roger Kilbourne. Wenn du den Pfad der Seelen betrittst, stört das an und für sich das Netz des Seins nicht. Dein Vater hat dir hierin die Wahrheit gesagt. Aber du hast deine Reisen auf dem Pfad der Seelen nicht auf dich beschränkt, richtig? Als du andere zurückgebracht hast und ihre Gegenstände, hat es jedes Mal das Gleichgewicht des Netzes gestört. An seinen zarten Fäden gezerrt und einige losgerissen. Ich sage nicht, dass du diesen Krieg verursacht hast, denn er hat begonnen, noch bevor du geboren wurdest. Aber du hast dem Feind geholfen, oh, wie du ihm geholfen hast!«
»Nicht nur ich habe Fäden losgerissen. Wer hat Fia hierher zurückgeschickt und Schatten und Wolle und die anderen Hunde?«
»Weder Fia noch die Hunde sind unser Werk. Versuch nicht, mich zu beschuldigen, Roger. Du weißt nicht alles, und ich werde dir nicht mehr verraten– dir, einem unwissenden Jungen, der dem Feind bereits so sehr geholfen hat. Verstehst du nicht? Das Seelenrankenmoor zerstört das Netz, das Leben und Tod miteinander verwebt. Beide haben unvorstellbare Macht, und diese Macht fließt entlang der Fäden des Netzes des Seins, das den Ausgleich erhält. Selbst deine unter üblen Zeichen geborene Schwester ist Teil jenes Netzes. Die abtrünnigen Hisafs benutzen sie, gemeinsam mit dem Seelenrankenmoor. Die Hisafs deines Vaters hoffen, sie zu töten. Keine Gruppe darf Erfolg haben. Wenn der Fluss der Macht– die stärkste Kraft der Welt– so plötzlich und stark aufgestört wird, was denkst du, könnte mit den Lebenden geschehen? Oder mit den Toten, die so treulich darauf warten, dass…«
»Worauf?«, fiel ich ein. Ihre Worte verblüfften mich. Konnte die Grenze zwischen Leben und Tod wirklich zerstört werden? »Worauf warten die Toten in ihren Kreisen? Verrat es mir!«
Sie sagte einfach: »Auf das Schwert.«
Ich schüttelte in der Dunkelheit den Kopf. Und dann erinnerte ich mich. Langsam sagte ich: »Da war etwas Helles und Schreckliches, das im Land der Toten vom Himmel gekommen ist…«
Alysse keuchte auf. »Du hast das Schwert gesehen?«
»Ich weiß nicht… nur einen Augenblick lang. Ich bin nicht sicher. Es war der Augenblick, in dem ich die Armee der Blauen zurückgebracht habe, und etwas hat den Himmel zerrissen, aber es war so hell, dass ich es nicht anschauen konnte. Dann habe ich den Pfad der Seelen betreten und war fort.«
Sie stöhnte. »Du hättest es überhaupt nicht sehen dürfen. Niemand sollte es sehen, bis auf… Ich werde dir nicht mehr erzählen. Du hast kein Recht, das zu wissen. Roger, du darfst den Pfad der Seelen nicht mehr betreten, gleichgültig aus welchem Grund.«
»Aber du hast zugegeben, dass das Betreten des Pfads der Seelen an sich nichts aufstört.« Weshalb stritt ich dafür? Ich hatte doch Angst, den Pfad der Seelen zu betreten.
»Es geht nicht nur um das, was dir geschehen könnte, Roger. Es geht auch um deine Schwester. Sie war– ist– im Mittelpunkt des Netzes. Die Macht, die das Seelenrankenmoor den Toten abnehmen und sich selbst zuweisen will, jene Macht fließt durch sie, das unnatürliche lebende Wesen unter den Toten. Siehst du nicht, weshalb sie wahnsinnig ist? Das würde jedes Kind in den Wahnsinn treiben. Und anders als andere Hisafs, ob treu oder treulos, bist du durch dein Blut mit ihr verbunden. Wenn du den Mittelpunkt der Macht auslöschst, während du im Land der Toten bist– wenn du glaubst, sie töten zu
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