Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
das Messer zugeworfen hatte, das ich dem toten Soldaten auf der anderen Seite abgenommen hatte. Mein Vater hatte nicht gesehen, wie ich es drüben an mich genommen hatte, und er sah jetzt nicht, wie ich es weiterreichte. Es war ein kleiner, dummer Akt des Trotzes dem Mann gegenüber, der mich verlassen hatte, zu mir zurückgekehrt war und mir eine Rettung versprochen hatte, an die ich verzweifelt glauben wollte. Doch weshalb sollte ich ihm trauen oder seinen Ratschlägen, insbesondere da sie dem Rat von Mutter Chilton widersprachen?
»Du darfst nie wieder den Pfad der Seelen betreten, und du musst nach Hause gehen.«
»Du darfst den Pfad der Seelen nach deinem Belieben betreten, und du musst mit dem Junghäuptling gehen und ihn unterrichten.«
Wer hatte recht?
Ich wusste es nicht. Aber zumindest konnte Lord Robert das gestohlene Messer benutzen, um sich zu verteidigen, vielleicht sogar, um zu fliehen. Oder, wenn ihm das nicht gelang, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu wählen. »Du musst an andere denken, nicht nur an dich.«
Die Soldaten der Wilden schoben mich aus der Zelle und sperrten die Tür hinter uns ab. Die anderen Gefangenen blieben zurück. Ich wurde durch den feuchten Gang aus Stein und Lehm geführt, die Stufen hinauf, durch die mächtige Tür und in das Lagerhaus. Ich sog in großen Schlucken die frische Luft ein. Der Geruch nach Pferden und Schmierfett schien mir das Süßeste zu sein, was ich je erfahren hatte. Ich war noch am Leben.
Und ich kannte den Namen meiner Mutter.
Katharine.
32
In einem Zeitraum, der mir sehr kurz schien, wurden alle Pferde, Kutschen und Karren bis auf einen aus dem Hof vor den Stallungen fortgebracht. Bei dem verbliebenen handelte es sich um einen schweren Wagen mit hohen Seitenwänden, der mit eisenbeschlagenen Kisten vollgestopft war. Nur wenig Platz war noch frei, und jemand hatte einen Haufen Stroh und ein paar Decken dorthin geworfen. Selbst ich konnte erkennen, dass keines der Pferde im Hof stark genug war, den Wagen zu ziehen. Man würde ein Paar kräftige Zugpferde brauchen. Der letzte der Knechte machte sich auf den Weg, um solche Tiere herzuschaffen. Ich blieb allein mit einem Soldaten der Wilden zurück. Er bedeutete mir, in den Wagen zu steigen, kettete mich an einen Eisenbolzen, der in eine Seitenwand getrieben worden war, und schloss die Rückseite des Wagens. Ich hörte, wie seine Stiefel über das Pflaster von dannen trampelten.
Was geschah im Land der Toten mit meinem Vater? Was war das für ein Gebell gewesen, das sich uns genähert hatte, und war er ihm entkommen? Oder waren das gar nicht seine Feinde?
Ich glaubte inzwischen, dass er meine Mutter und mich zu unserer eigenen Sicherheit verlassen hatte– und doch war das nicht die ganze Wahrheit. Ich hatte gesehen, wie eine Erregung sich auf seinen Zügen ausbreitete, als er sich dem zugewandt hatte, was dort in jenem anderen Reich auf ihn zugekommen war. Ich hatte das plötzliche stechende Leuchten seiner grünen Augen gesehen. Er war ein Hisaf, der ein größeres Schicksal zu erfüllen hatte, als nur mit Frau und Kind zu leben, und ein Teil von ihm hieß dieses Schicksal willkommen. Obwohl es wirkliche Gefahren mit sich brachte, wirkliche Qualen, obwohl es die Trennung von den Liebsten bedeutete. Mein Vater hatte uns wehmütig verlassen, aber auch mit einem Hochgefühl, das beinahe an Verlangen grenzte.
Ich erkannte all das, weil es das war, was ich gefühlt hatte, als ich Maggie und Jee verlassen hatte.
Während ich auf der Ladefläche im Stroh lag, dachte ich an Maggie. Ich erinnerte mich an so viele Kleinigkeiten: die Art, wie ihr die hellen Locken in die Stirn fielen, wenn sie den duftenden Eintopf im großen Kessel über dem Herdfeuer zubereitete. Wie ihre starken Arme Brot kneteten. Wie sie lachte, wenn wir am Ende des Tages vor unseren Bierkrügen am Tisch der Herberge saßen. Und ihr Körper, der sich auf dem sonnenbeschienenen Hügel unter meinem bewegte, am letzten Tag, an dem ich sie gesehen hatte. Auf irgendeine Weise hatte mir die Geschichte meines Vaters Maggie wieder scharf ins Gedächtnis gerufen. Es ergab keinen Sinn, aber sie war da.
»Ven tek fraghir! Klen!«
Ein Pferd wieherte. Der Wagen ruckte, als die Stränge befestigt wurden. Weitere Rufe in der Sprache der Wilden ertönten. Dann bewegten wir uns, die Eisenräder rollten polternd über den gepflasterten Hof und hielten nicht mehr an. Die Seitenwände des Wagens waren so hoch, dass ich nicht darüberschauen konnte,
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