Das Land zwischen den Meeren
und vor den Erwartungen waren, die man gemeinhin in Söhne ihres Alters setzte – nicht nur in England. Dass sie ein braves Mädchen aus gutem Hause heirateten und für den Fortbestand der Dynastie sorgten. Das Bedürfnis, auszubrechen, etwas zu erleben und sich den Konventionen zu widersetzen, verband Elisabeth mit den beiden Gästen.
»Guten Morgen, Gentlemen, wir möchten Ihnen heute eine Spezialität aus meiner österreichischen Heimat servieren. Topfenpalatschinken, wie man sie bei uns nennt, das sind mit Quark gefüllte Pfannküchlein.«
Die beiden probierten einige Bissen und rollten verzückt mit den Augen. »Hm, damit versüßen Sie uns den Abschied, Miss Elisabeth. Nun müssen Sie allerdings damit rechnen, dass wir schon bald wieder hier auftauchen«, drohte Spencer scherzhaft und hob lachend den Zeigefinger.
»Den Teig hat übrigens meine Assistentin ganz allein zubereitet«, beeilte sich Elisabeth zu erklären und legte einen Arm um Olivias Schultern.
»Ganz deliziös, Miss Olivia«, lobte Graham und zwinkerte der Kleinen anerkennend zu. Elisabeth sah, wie die Augen der Patentochter vor Stolz aufleuchteten. Sie kam gut mit Olivia zurecht. Ihr gegenüber verhielt sich die Neunjährige keineswegs widerborstig, sondern war anschmiegsam und sanft wie ein Lämmchen. Was sie nicht sonderlich verwunderte, denn Mütter hatten es bei der Erziehung ihrer Töchter ohnehin schwerer als Patentanten. Das wusste sie aus eigener Erfahrung.
»Komm, wir wollen schauen, wo deine Mama und Marie geblieben sind.« Sie nahm Olivia an die Hand, und gemeinsam stiegen sie die Holzstufen neben der Veranda bis zum Meer hinunter. Seit sich die Flut ihrem Höhepunkt näherte, war der Strand hinter dem Haus nur noch ein schmaler weißer Streifen, der sich bei Ebbe zu einem breiten Küstensaum ausdehnte.
Elisabeth fühlte den feinen warmen Sand unter den nackten Fußsohlen. Sie liebte es, ohne Schuhe am Strand entlangzugehen. Im Haus, auf den kühlen Steinfliesen, trug sie aus Palmstroh geflochtene Sandalen. Und in ihre Lederstiefeletten schlüpfte sie nur noch, wenn sie auf Reisen war oder zu einer offiziellen Einladung ging. Als Farbe für ihre Kleidung bevorzugte sie nach wie vor Schwarz, allerdings hatte sie die weitaus bequemere Tracht der Indianerinnen übernommen – knöchellange Wickelröcke und weite Blusen. Das dazugehörige Kopftuch war selbstverständlich in Rot gehalten, so wie früher ihre Hüte.
Elisabeth hatte auch das Mieder abgelegt, denn keine Indigena, die an der Töpferscheibe oder in den Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen arbeitete, wäre auf den Gedanken gekommen, ihren Körper einzuschnüren. Das war etwas für die vornehmen Ticas oder die europäischen Einwanderinnen, die lediglich als dekoratives Anhängsel ihrer erfolgreichen Ehemänner dienten. Die die meiste Zeit in ihren eigenen vier Wänden verbrachten und sich folgsam dem Modediktat des französischen Hofes unterwarfen. Doch Elisabeth fühlte sich ohne die beengenden Fischbein- und Stahlstäbe wie befreit. Sie mochte ihre Figur, die seit der Geburt ihrer Tochter ein wenig weicher und fülliger geworden war.
»Ich bin die Erste!«, rief Olivia, und Elisabeth ließ sie schwer keuchend das Wettrennen gewinnen. Dann knotete sie ihren Rock an den Seiten hoch und stieg bis zu den Waden in das klare, kühle Meerwasser. Olivia hüpfte und jauchzte, wenn eine Welle kam, und störte sich nicht daran, dass ihr Kleid bis zu den Hüften nass wurde.
»Ist das nicht herrlich erfrischend, Spatzi? Schau, da vorn sind die beiden!« Sie winkte Dorothea zu, die ihr Hand in Hand mit Marie am Rand eines Mangrovenwäldchens entgegenkam. Noch immer war die Freundin so gertenschlank wie damals, als sie sich zum ersten Mal an Bord der Kaiser Ferdinand begegnet waren. Dorothea hatte sich in den zurückliegenden Jahren kaum verändert. Allerdings zeigte sich neben dem ernsten Zug um die Lippen inzwischen auch eine unbestimmte Traurigkeit in den Augen. Oft schon hatte Elisabeth sich gefragt, welchen Grund es hierfür geben mochte, d och sie scheute sich, Dorothea mit einer unziemlichen Frag e zu brüskieren. Sie spürte, ganz tief im Innern gab es eine Hürde, die die Freundin nicht zu überwinden vermochte.
Elisabeth schmunzelte, als Marie, der lustige vierjährige Wirbelwind, eine Baumwurzel über dem Kopf schwenkte. Die Kleine tat nichts lieber, als am Meer Holz zu sammeln und zu raten, welches Tier sich darin verbergen könne. Gerade jetzt, am Ende der Regenzeit, waren
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