Das Land zwischen den Meeren
immer ausmalen, was deiner Tochter Schlimmes zustoßen könnte, sondern ihr vertrauen. Du kannst sie nicht ihr Leben lang beschützen. Sie muss auch schmerzhafte Erfahrungen machen und irgendwann ihren eigenen Weg gehen. Je mehr du sie mit deiner Fürsorge erdrückst, desto eher wird sie sich eines Tages davon befreien wollen«, gab Elisabeth unumwunden zu bedenken. Und hatte vermutlich gerade damit den Finger in eine Wunde gelegt. Denn plötzlich entdeckte sie Betroffenheit und einen feuchten Schimmer in Dorotheas Augen. Rasch lenkte sie ein, um an diesem herrlichen Morgen keine Missstimmung aufkommen zu lassen. »Ich weiß, ich hab leicht reden. Hier am Meer kann ein Kind viel unbeschwerter aufwachsen als auf einer großen Hacienda, noch dazu unter den gestrengen Augen der Großeltern. So, und jetzt will ich nachsehen, ob mein Liebespaar noch irgendwelche Wünsche hat.«
»Wen meinst du? Außer uns sind doch nur die beiden Engländer zu Gast.«
Elisabeth war erleichtert, denn die Freundin hatte ihr offenbar die kritischen Worte nicht übel genommen. Schnell leitete sie zu einem anderen Thema über. »Sag einmal, wie gefallen dir die Gentlemen mit ihren altmodischen Anzügen?«
»Es sollte mehr solcher höflicher und liebenswerter Männer geben. Letzte Woche haben sie Olivia das Kartenspielen beigebracht, und vorgestern haben sie sie zu einem Ausflug in das Wäldchen mit den Indischen Mandelbäumen mitgenommen und rote Aras beobachtet. Das Kind schwärmt immer noch von dem lustigen Nachmittag.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Die beiden sind witzig, unkompliziert und obendrein noch Kindernarren … und sie sind ineinander verliebt.«
Die Art, wie sich Dorotheas Hände hilfesuchend an der Bank festklammerten, machte Elisabeth stutzig. So bleich und fassungslos hatte sie die Freundin noch nie erlebt. Nicht einmal auf dem Schiff, als Dorothea gestürzt war und sich den Knöchel verstaucht hatte, nachdem Jensen sich ihr zu nähern versucht hatte. Doch im Augenblick stand ihr pures Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass sich einer ihrer aufgesteckten Zöpfe löste, und lief wortlos davon, so schnell, als würde sie verfolgt. Elisabeth blickte ihr ratlos hinterher, war sich keiner Taktlosigkeit bewusst.
»Dorothea, was ist mit dir?«
Mit zusammengekniffenen Lippen zerrte Dorothea die beiden Koffer unter dem Bett hervor und warf ihre und Olivias Kleider hinein. Sie wollte fort von hier, so schnell wie möglich. Elisabeth sollte ihr umgehend Mulis und einen Führer besorgen. Wie hatte sie nur so arglos sein können? So dumm und so blind.
»Herein!« Dorothea wandte sich nicht einmal um, sondern packte wahllos weiter. Elisabeth trat ins Zimmer und stellte sich neben sie, sah ihr schweigend zu, wie sie noch ein Nachthemd in den prall gefüllten Koffer stopfte. Mit aller Kraft warf Dorothea den Deckel zu, etwas zu hastig, denn plötzlich klemmte sie sich den Finger ein. Mit leisem Stöhnen zog sie ihn heraus und steckte ihn in den Mund, schmeckte Blut. Langsam kam sie wieder zur Besinnung, versuchte sich vorzustellen, wie absurd ihr Benehmen auf Elisabeth wirken musste. Sie ließ sich auf die Bettkante sinken und brachte es nicht über sich, der Freundin in die Augen zu sehen.
Elisabeth setzte sich neben sie, legte ihr den Arm um die Schultern. »Magst du mir erzählen, was passiert ist? Habe ich irgendetwas Verletzendes gesagt?«
»Nein, es hat nichts mit dir zu tun.« Dorothea kräuselte spöttisch die Lippen, als sie daran dachte, wie oft sie diese Worte schon gehört hatte. Von ihren Mann. Wenn er ihr sein Handeln erklären wollte – und es doch nicht konnte. Sie zögerte und brachte ihre Erklärung nur stockend hervor. »Es ist … wegen der beiden Engländer. Ich kann nicht länger mit ihnen unter einem Dach wohnen.«
Elisabeth rückte ein Stück zur Seite, schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß, betrachtete ihre wohlgeformten Zehen. »Nun, ich weiß zwar nicht, was die beiden dir getan haben, aber ich kann dich beruhigen. Sie brechen heute noch nach Puntarenas auf. Von dort wollen sie mit dem Schiff nach Guatemala weiterreisen.«
Dorothea, die wie ein Häufchen Elend dagesessen hatte, richtete sich langsam wieder auf. In ihren Augen lag Erleichterung. Große Erleichterung. Sie holte tief Luft und presste eine Hand auf das Herz, das noch immer unruhig pochte. »Bitte verzeih mir, Elisabeth. Was musst du nur von mir denken … Es kam so plötzlich, und
Weitere Kostenlose Bücher