Das Land zwischen den Meeren
darfst mich nicht verlassen, Dorothea! Niemals, hörst du? Das wäre mein Untergang.« Antonio klammerte sich an ihr fest. »Ich brauche dich doch … und die Kinder auch.«
Dorothea schwankte zwischen Wut und Verständnis, bereute fast ihre harten Worte. Sie war Ehefrau und Mutter, folglich hatte sie Pflichten. Und die musste sie erfüllen. Aber warum hatte sie so oft das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen bräche ein? Sie seufzte, schüttelte müde den Kopf. »So kann ich nicht länger weiterleben.«
»Bleib bei mir! Ich … ich werde jeder Versuchung aus dem Weg gehen, gewisse Lokale meiden, jeden Abend darum beten, meinen Dämon endlich zu besiegen. Es wird alles gut zwischen uns. Ich verspreche es dir.«
Dorothea schob Antonio zur Seite, ging mit schweren Schritten auf das Herrenhaus zu.
»Was hast du vor?«, rief Antonio angstvoll hinter ihr her.
»Ich brauche dringend eine Luftveränderung. Morgen reise ich zu Elisabeth an die Küste. Und Olivia nehme ich mit. Ich werde länger bleiben. Wie lange, weiß ich noch nicht.«
Oktober bis November 1860
»Nimm noch einen Esslöffel Zucker und eine Prise Salz dazu. Und jetzt alles gut mit dem Schneebesen verrühren … Bravo, Spatzi, ich glaube, du bist die geborene Köchin.« Elisabeth von Wilbrandt zerließ einen großen Klecks Butter in einer Kupferpfanne und füllte portionsweise den Teig hinein, den ihre Patentochter Olivia mit viel Eifer zubereitet hatte.
»Bestimmt nicht, Tante Elisabeth. Ich werde nämlich Tänzerin. Oder Schauspielerin. Auf jeden Fall will ich reisen und in der Welt herumkommen. Nicht immer nur zu Hause sitzen und mich langweilen.«
»So, das ist ja lustig. Als junges Mädchen habe ich auch davon geträumt, ans Theater zu gehen. Wer weiß, wie mein Leben als Schauspielerin wohl ausgesehen hätte? Aber es ist anders gekommen, und heute freue ich mich, dass ich mein blaues Haus am Meer habe. Was sagen denn deine Eltern zu deinen Plänen?«
Olivia steckte einen Finger in die Schüssel mit dem Rosinenquark. »Hm, lecker … Ich habe ihnen noch nichts davon erzählt. Papa wäre es vermutlich einerlei, aber Mama hätte Angst, ich könnte mir auf der Bühne den Fuß brechen oder der Zug würde entgleisen, in dem ich reise, und jemand überfällt mich … Immerzu erzählt sie, wie gefährlich etwas ist und dass ich gut aufpassen soll, weil ich ihr allerliebster Schatz bin. Wie ich solche Sprüche hasse.«
»Nicht doch, Spatzi! Deine Mama ist eben stolz, eine so hübsche Tochter zu haben. Vielleicht wird es dir später einmal ähnlich ergehen, wenn du Kinder hast.« Elisabeth verteilte den Quark auf den fertig gebackenen dünnen Pfannkuchen und rollte sie auf. Ihr waren die Spannungen zwischen der ruhigen und vorsichtigen Dorothea und ihrer impulsiven, oft kratzbürstigen Tochter nicht entgangen. Jede Ermahnung, die Dorothea aussprach, reizte Olivia zum Widerspruch. Mutter und Tochter waren nicht nur vom Aussehen, sondern auch vom Wesen her völlig unterschiedlich. Doch Elisabeth hatte beide ins Herz geschlossen.
»Magst du mir beim Servieren helfen, Livi?« Elisabeth war die einzige Erwachsene, die Olivia bei ihrem Kosenamen ne nnen durfte, bei jedem anderen hätte die Patentochter Zeter und Mordio geschrien.
Für die Gäste der Pension war der Tisch auf der Veranda gedeckt worden. Die beiden jungen Engländer liebten den Blick auf das blaugrün schimmernde Meer und den weiten Horizont, an dem fast täglich Großsegler mit Kurs auf Puntarenas oder in umgekehrter, südlicher Richtung nach Ecuador, Peru und Chile zu sehen waren. Stundenlang saßen sie bei einem Sherry in den gemütlichen Korbsesseln, schrieben Tagebuch oder Briefe an die Familien und Freunde zu Hause. Sie logierten bereits zum dritten Mal in der Pension, und Elisabeth betrachtete sie mittlerweile als Freunde.
Graham Archer und Spencer Branagh hätte man für Brüder halten können, so ähnlich sahen sie sich mit dem hellbraunen Haar, der mittelgroßen schlanken Figur und der maßgeschneiderten Kleidung, der allerdings etwas Altmodisches anhaftete. Wie so häufig bei kultivierten Briten ihres Standes. Sie hatten sich während des Studiums in Cambridge kennengelernt. Beide waren Ende zwanzig, stammten aus reichen Elternhäusern und konnten es sich leisten, durch die Welt zu reisen, ohne dafür arbeiten zu müssen.
Nach zahlreichen abendlichen Gesprächen bei Wein und Tortillas wusste Elisabeth, dass die Exkursionen der jungen Männer eine Flucht vor der Enge zu Hause
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