Das Land zwischen den Meeren
die Strände mit Ästen und Baumstämmen übersät, die die Flüsse aus den hochgelegenen Nebelwäldern ins Meer spülten. Ihr wurde warm ums Herz, als sie Marie so fröhlich daherkommen sah. Die Kleine hatte ihr dunkles Haar und die Stupsnase geerbt, die dem Gesicht etwas Vorwitziges verlieh. Marie war das größte Geschenk, das ihr das Leben bisher gemacht hatte. Sie lief ihrer Tochter mit ausgebreiteten Armen entgegen, nahm sie hoch und drehte sich einige Male im Kreis. Dann rieb sie mit dem Handrücken notdürftig das dreckverschmierte Gesicht sauber und drückte dem Kind einen herzhaften Kuss auf die Wange. »Da bist du ja, mein Schatzerl. Was hat meine kleine Entdeckerin denn heute gefunden?«
»Ein Krokodil, Mamilein, schau mal!« Marie streckte ein Ärmchen vor und zeigte eine lange dünne Baumwurzel, die allerdings eher an eine Schlange erinnerte.
»Ui, da bekomme ich ja richtig Angst! Hoffentlich will das wilde Tier mich nicht fressen. Sag, meine Süße, magst du mit Olivia eine Sandburg bauen? Dorothea und ich setzen uns hier vorn in den Schatten und schauen euch dabei zu.«
Marie lief zu einem Schuppen unterhalb der Veranda und holte einen Eimer und zwei Suppenkellen heraus. Wie selbstverständlich nahm sie die viel größere und ältere Olivia an die Hand und lief mit ihr bis zum Wasser. Die Mädchen hockten sich in den Sand und waren schon bald ganz in ihr Spiel vertieft.
Elisabeth führte die Freundin zu einer Bank unter einem Pochotebaum, dessen Stamm und Äste über und über mit Stacheln versehen waren. Ihr Herannahen weckte einen Nasenbären, der im Schatten eingedöst war. Neugierig beäugte er die beiden Frauen und schlich dann gemächlich und mit hoch erhobenem Schwanz davon. Elisabeth hatte es bisher vermieden, diese zutraulichen Tiere zu füttern, weil sie keine ungebetenen vierbeinigen Gäste im Haus haben wollte. Doch sie wusste nicht, wie lange sie Maries Bitten noch widerstehen konnte, die Nasenbären zu ihren Lieblingstieren erklärt hatte. Sie blickte zu den Kindern am Wasser hinüber und warf ihnen eine Kusshand zu.
»Sind die Mädchen nicht süß? Ich find’s schön, wie die beiden sich verstehen.«
Dorothea nickte. »Olivia ist hier ganz anders als zu Hause. Dort will sie immer nur zeigen, wie furchtlos sie ist, und lässt sich zu den waghalsigsten Mutproben hinreißen. Kürzlich ist sie mit ihrem Pony über unseren Bach gesprungen und ins Wasser gefallen. Ganz grün und blau ist sie an der Hüfte gewesen, und das Handgelenk hat sie sich auch verstaucht. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Ängste ich immer ausstehe. Ich glaube, das Seeklima tut ihr gut. Und mir auch. Es ist wirklich schön bei dir.«
Elisabeth umarmte die Freundin. »Ich freue mich, dass ihr gekommen seid. Olivia ist eben ein Wildfang und hat ihren eigenen Kopf. Ich war in dem Alter übrigens genauso.«
Dorothea wollte schon aufspringen, als sie sah, wie ihre Tochter plötzlich bis zu den Knien im Wasser stand, doch Elisabeth hielt sie mit sanftem Druck zurück. Weil sie ahnte, dass Olivia ohnehin jegliche mütterliche Ermahnung in den Wind schlagen würde.
»Sei vorsichtig, mein Schatz, geh nicht weiter hinaus!«, rief Dorothea der Kleinen zu.
Olivia verschränkte die Arme vor der Brust, ging noch einen Schritt weiter ins Wasser und sah trotzig zu ihrer Mutter herüber. Dorothea seufzte resigniert.
»Immer wieder dieselben Spielchen … Um Federico mache ich mir keine solchen Sorgen. Vielleicht weil er ein Junge ist. Aber Olivia ist mein Ein und Alles. Am liebsten trüge ich sie noch mit mir herum wie damals, als sie ein Säugling war. Sie soll immer nur glücklich sein.«
»Weil du ihr das geben willst, was du selbst vermisst hast?« Es war nur eine Vermutung, aber Elisabeth hatte den Erzählungen der Freundin entnommen, dass diese sich als Kind einsam und verloren gefühlt hatte. Ein Schicksal, das ihr glücklicherweise erspart geblieben war. Sie selbst hatte eine behütete Kindheit erlebt, hätte sich dennoch nie vorstellen können, für immer in ihrem Heimatdorf zu leben, wo die einzige Veränderung der Wechsel der Jahreszeiten war.
Dorothea nickte, ließ Olivia aber nicht aus den Augen. »Ja, das ist der Grund. Ich habe mich von meinen Eltern immer abgelehnt gefühlt und sehr darunter gelitten. Eigentlich macht mir das heute noch zu schaffen. Olivia soll spüren, wie sehr ich sie liebe und dass ich alles für sie täte.«
»Das weiß sie doch … Allerdings meine ich, du solltest dir nicht
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