Das Land zwischen den Meeren
kräftig auf die Schulter. »Dann kümmern Sie sich rasch wieder um die Frau Tante. Und seien Sie besonders nett zu ihr.«
Alexander drehte den Zimmerschlüssel herum und nahm wieder auf der Bettkante Platz. Vorsichtig hob er die Decke an. »Die Luft ist rein. Du kannst wieder herauskommen, Liebste.«
Mit hochroten Wangen wühlte Dorothea sich aus den Laken hervor. Ihre Haarnadeln hatten sich gelöst, einer ihrer Zöpfe wippte über der Stirn. »Einen weiteren Schrecken verkrafte ich heute nicht. Ich glaube, ich sollte besser gehen.«
»Nein, warte, nicht bevor ich dir meine Überraschung gezeigt habe.«
Alexander griff in seine Hosentasche, zog ganz langsam seine Hand wieder hervor und streckte ihr die geschlossene Faust entgegen. »So, und jetzt rate, was ich hier versteckt halte …«
Neugierig schlug Dorothea die Bettdecke zurück, richtete sich auf und bog Alexanders Finger mit sanftem Druck auseinander. Sie jauchzte vor Freude auf, hielt sich dann aber erschrocken die Hand vor den Mund. Sie suchte nach Worten. »Aber das ist ja … wunderschön …« Zitternd griff sie nach einer goldenen Kette mit einem herzförmigen Anhänger, den rot funkelnde Granatsteinchen zierten.
»Das ist mein Verlobungsgeschenk an die Frau, die ich liebe, mit der ich eine Familie gründen und bis an mein Lebensende zusammen sein will«, flüsterte Alexander an ihrem Ohr und legte ihr mit zitternder Hand die Kette um den Hals. Von irgendwoher erklang die Stimme der Mutter, die die Tochter davor warnte, jemals Schimpf und Schande über die Familie zu bringen. Dorothea hörte auch die mahnenden Worte der Nonnen, die die Schülerinnen vor dem Verlust der Tugend warnten, solange sie noch unverheiratet waren, vor der Strafe Gottes und den ewigen Qualen der Hölle.
Die Stimmen wurden leiser, bis sie schließlich ganz verhallten. Nichts konnte an ihren Empfindungen falsch sein. Alles fühlte sich gut und richtig an. Dorothea schlang die Arme um Alexanders Hals, zog ihn zu sich heran und antwortete mit einem innigen Kuss. Spürte, wie sich ihre anfängliche Überraschung in unergründliche Sehnsucht wandelte. Aus der nie gekanntes Verlangen erwuchs. Sie fühlte sich begehrt und beschützt zugleich.
Bebend pressten die Liebenden die Körper aneinander. Wie von selbst arbeiteten sich ihre Hände durch Lagen aus Wolle, Leinen und Seidenstoff, öffneten Knöpfe und Haken, lösten Bänder. Dorotheas Atem raste, als Alexanders Finger begierig über ihre weiche Haut strichen, verharrten, kreisten und schließlich an Stellen gelangten, bei deren bloßer Berührung sie nach Atem rang. Dann gab es nur noch sie beide auf der Welt. Niemanden sonst.
April 1848
Die Sonne des späten Nachmittags tauchte die hell getünchten Hausfassaden der Kölner Altstadt in ein sanftes Licht. Mit eiligen Schritten entfernte Dorothea sich vom Haus ihrer Herrschaften, knotete ihr Schultertuch fester und spürte das Papier, das unter dem Mieder knisterte. Es war ein Brief von Alexander aus Berlin, den sie vor der Arbeit am Postschalter abgeholt hatte. Er hatte ihr versprochen, jeden Tag zu schreiben, und sie kannte jede Zeile auswendig.
Meine geliebte Dorothea, wie sehr ich Dich vermisse! Berlin ist eine große und prunkvolle Stadt. Trotzdem gibt es auf den Straßen mehr Armut und Bettler als in Köln. Die Verhandlungen wegen des Buches gehen zügig voran. Ich habe Herrn Fischer, dem Verleger, mein Konzept über die Anordnung der einzelnen Kapitel vorgetragen und ihm auch erklärt, dass meiner Ansicht nach Zeichnungen von Pflanzen, Tieren, Eingeborenen und Landschaften die Kauflust der Leser zusätzlich steigern würden. Von diesem Vorschlag war er höchst angetan. Stell Dir nur vor: Während ich demnächst meine Reiseeindrücke notiere, fertigst Du Skizzen an. Das Buch wird unser gemeinsames Werk. In vier bis fünf Tagen soll der Vertrag zur Unterzeichnung vorliegen. Dann werde ich mich um unsere Schiffspassagen kümmern und vielleicht schon im nächsten Monat mit meiner Braut nach Westen davonsegeln! Ich kann es kaum erwarten, wieder bei Dir zu sein, und küsse Dich auf den Mund, den Hals und auf eine Stelle, die Dich immer zum Erbeben bringt, wenn ich sie mit den Lippen berühre. In Liebe, Dein Alexander.
Sie seufzte leise, und das Herz klopfte ihr vor brennender Sehnsucht nach dem Geliebten. Ein versonnenes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie sich das Wiedersehen in spätestens einer Woche vorstellte. Auf einmal verspürte sie wieder diesen seltsamen
Weitere Kostenlose Bücher