Das Land zwischen den Meeren
Bücher ausleihen können. Jeder Mensch hat ein Recht auf anspruchsvolle Lektüre. Aber nicht jeder besitzt das Geld, sich die neuesten Werke zu kaufen. Natürlich sollen nur künstlerisch wertvolle oder christliche Titel vertreten sein. Und von den Einnahmen können wir den Blumenschmuck bei Festtagsgottesdiensten bezahlen. Oder einen neuen Opferstock. Den haben wir nämlich dringend nötig.«
»Dann bin ich gern das erste Mitglied und zahle Ihnen ab sofort eine Leihgebühr.« Dorothea beschloss, das Buch zuunterst in die Wäschetruhe zu legen, wo ihre Mutter es nicht finden konnte. Andernfalls würde sie zweifellos unliebsame Fragen stellen. Und die wollte Dorothea zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Noch nicht.
»Du willst also mehr über das Leben in fremden Ländern erfahren?«
»Ja, Herr Pfarrer, denn … Köln kommt mir manchmal schrecklich eng vor. Dabei ist die Welt doch riesig groß, und es gibt so vieles zu entdecken. Menschen, Seen, Berge, Tiere, Pflanzen … Bisher kenne ich nur unsere Innenstadt und das Rheinufer. Ach ja, und die Arminiusstraße in Deutz. Dort wohnt meine Patentante. Aber auf anderen Kontinenten gibt es Länder, in denen herrscht ein viel milderes Klima als bei uns. Ich mag die Kälte im Winter nicht, auch nicht den Schnee.«
Pfarrer Lamprecht griff in seine Soutane und zog eine Pfeife hervor. Er stopfte Tabak hinein und zündete sie an. Mit zufriedenem Lächeln sog er an dem Mundstück und atmete mit gespitztem Mund aus, sah dem Qualmwölkchen hinterher, das kreiselnd in die Luft aufstieg.
»Offensichtlich steckt in dir eine gewisse Abenteuerlust. Wie bei meinem Bruder. Vor zehn Jahren ist er nach Mittelamerika gegangen, nach Guatemala. Heute lebt er als Pfarrer in Costa Rica, in einer Gemeinde nahe der Hauptstadt San José. Dieses Fleckchen Erde muss wunderschön sein. Mein Bruder ist überzeugt, dort habe sich der Garten Eden befunden.«
Dorothea konnte das Zittern ihrer Hände kaum verbergen. Pfarrer Lamprecht sprach von dem Land, in dem ihre Zukunft lag. Ihre und Alexanders gemeinsame Zukunft. Für einen Moment überlegte sie, ob sie dem Geistlichen von ihren Absichten erzählen sollte. Doch dann erschien es ihr ratsamer, nichts Genaues zu verraten. Lieber wollte sie ihre Wissbegierde so darstellen, als sei alles nur ein Traum, eine schwärmerische Neigung. Zu groß war die Angst, etwas Unvorhergesehenes könne sich ereignen und alle Pläne zunichte machen.
»Gern würde ich einmal nach Costa Rica reisen und dieses Paradies kennenlernen«, entgegnete sie und fühlte eine plötzliche Übelkeit in sich aufsteigen.
»Die meisten, die es in die Ferne zieht, wandern nach Nordamerika aus. Die Armut greift um sich in Deutschland, immer mehr Menschen kämpfen ums nackte Überleben. Nach Costa Rica wollen die wenigsten, aber Deutsche sind dort höchst willkommen. Weil sie zuverlässig und pünktlich sind. Im Hochland, wo mein Bruder lebt, werden sogar Lehrer für deutsche Siedlerkinder gesucht, wie ich aus seinen Briefen erfuhr. Aber eine junge Frau wie du will sicher nicht allein in die weite Welt hinausziehen. Dazu gehört ein passender Ehemann, habe ich recht?« Durch eine spiralförmige Rauchschwade betrachtete sie der Pfarrer mit neugierigem Lächeln.
Dorothea zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich über die Stirn, auf der sich winzige Schweißperlen gebildet hatten. Sie wollte sich nicht länger zurückhalten, wollte dem Pfarrer anvertrauen, was dieser sicherlich wie ein Beichtgeheimnis für sich behalten würde. »Einen … einen Mann habe ich schon gefunden«, stammelte sie. »Allerdings wissen meine Eltern noch nichts von ihm, weil … Sie würden dieser Heirat niemals zustimmen.«
Pfarrer Lamprecht nickte bedächtig. »Ich erlebe oft, dass Eltern sich in die Liebesangelegenheiten ihrer Kinder einmischen. Nicht immer zu allseitigem Nutzen. Folge deinem Herzen, meine Tochter. Gott wird dir schon den rechten Weg weisen.«
Dorothea griff nach einem dünnen Heft, das auf dem Schreibtisch des Pfarrers lag, und fächelte sich Luft zu. »Es ist so warm hier im Zimmer. Vielleicht ist es auch der Tabakgeruch …«
»Aber natürlich, wie nachlässig von mir!« Pfarrer Lamprecht stand rasch auf und öffnete einen Fensterflügel. Dorothea wankte zum Fenster und hielt sich mit beiden Händen an der Laibung fest. In ihrem Magen krampfte sich etwas zusammen, das langsam bis zum Hals hochstieg. Sie würgte und schluckte, und um sich von ihrem eigenen Befinden
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