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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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abzulenken, starrte sie auf die noch kahle Baumkrone einer Linde, in der ein Amselpaar ein Nest vom Vorjahr in Augenschein nahm.
    Plötzlich wurde ihr Blick so klar, als läge alles ausgebreitet vor ihrem inneren Auge. Sie sah sich und Alexander auf dem Bett in seiner Dachstube. Ihre glühenden Leiber aneinandergepresst, schwitzend und keuchend. Weder Zeit noch Raum gab es, nur sie beide und ihr Verlangen. Es musste Anfang März gewesen sein, als Dorothea ihm zum ersten Mal in seine winzige Wohnung gefolgt war. An diesem Nachmittag hatte er ihr die Kette mit dem Herzanhänger angelegt. Als Verlobungsgeschenk. Seither trug sie das Schmuckstück unter dem Mieder, unmittelbar auf der Haut, wo sie so gern seine zärtlichen Lippen spürte.
    Mehr als sechs Wochen waren seit dieser heimlichen leidenschaftlichen Begegnung vergangen … und mehr als acht Wochen seit ihrer letzten Monatsblutung. Sie hatte es nur noch nicht bemerkt – bis zu diesem Augenblick. Doch nun überkam sie eine Vermutung für ihr seltsames Befinden. Ja, es konnte womöglich nur diese eine Erklärung geben. Sie war – guter Hoffnung! Und diese Erkenntnis, noch vor der Ehe ein Kind empfangen zu haben, kam ihr ausgerechnet in Gegenwart eines Pfarrers, dessen Pflicht es war, strenge moralische Grundsätze zu predigen …
    Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein Gefühl von Erschrecken, Dankbarkeit und Freude breitete sich in ihrem Herzen aus. Alexander wäre glücklich, dessen war sie sich ganz sicher. Er hatte bereits von einer eigenen Familie gesprochen. Doch eigentlich hatte sie erst nach der Heirat an Nachwuchs denken wollen. Glücklicherweise würde sie bis zur Hochzeit ihren Zustand verbergen können. Und es gab noch vieles zu regeln bis dahin … Dorothea hegte bereits zärtliche Gefühle für das unbekannte Wesen unter ihrem Herzen, war es doch ein Kind der Liebe. Zu dritt würden sie das ferne Land mit seinen weiten Stränden, hohen Vulkanen, immergrünen Wäldern und den seltsamsten Tieren und Pflanzen erkunden. Und Gott würde seine Hand schützend über die kleine Familie halten und sie auf allen Wegen begleiten.
    »Meine Tochter, geht es dir wieder besser?« Die Stimme des Pfarrers klang besorgt.
    »Danke, ja, Herr Pfarrer, es ist alles in Ordnung. Die frische Luft hat mir gutgetan. Aber nun muss ich nach Hause. Mutter wird ärgerlich, wenn ich zu spät zum Abendessen komme.«
    Sie verabschiedete sich und stieg die steile Treppe hinunter. Nichts war mehr so wie vor wenigen Minuten, bevor sie an diese Pforte geklopft hatte. Es drängte sie zu sehen, ob auch die Welt draußen sich verändert hatte. Ja, die Luft war viel klarer, milder und lichter. Dorothea lächelte den Menschen zu, die ihr entgegenkamen. Sie schwebte die Apostelnstraße entlang und bog an der ersten Straßenmündung nach links in die Große Brinkgasse ein.
    Doch als sie vor dem hellgelb verputzten Haus stand, das ihr Elternhaus war und in dem sie von klein auf gelebt hatte, wurde ihr kalt. Sie mochte nicht hineingehen, sprach sich selbst Mut zu. Sie wusste, ihre Eltern würden zunächst entsetzt sein, danach wütend und schließlich versuchen, ihr die Heirat mit Alexander und auch die Reise zu verbieten. Aber sie konnten sie nicht umstimmen. Um keinen Preis der Welt!
    Noch brauchte sie den Eltern nichts von ihrem Zustand zu erzählen. Zumal es sich vorläufig nur um einen Verdacht handelte. Zunächst wollte sie sich bei einer Hebamme letzte Gewissheit verschaffen und danach Alexander einen Brief schreiben. Über alles, was in den nächsten Tagen und Wochen geschehen würde, wollte sie sich an diesem herrlichen Nachmittag nicht den Kopf zerbrechen.

April 1848
    Mit energischem Griff zupfte Sibylla Fassbender eine Falte der schweren cremefarbenen Damasttischdecke zurecht. Dann zog sie eins der silbernen Besteckmesser langsam zu sich heran, bis der Griff exakt mit der Tischkante abschloss. Prüfend kniff sie die Augen zusammen und blinzelte mehrmals. Eins der kunstvoll geschliffen Weingläser hatte ihr Misstrauen erregt. Sie hielt den Kelch gegen das Licht, warf Greta, dem neuen Dienstmädchen, einen vorwurfsvollen Blick zu, woraufhin dieses eilig nach einem Küchentuch griff und das Glas so lange polierte, bis es makellos und zur Zufriedenheit der Dienstherrin glänzte.
    »Sie müssen noch viel lernen, Greta. Ihrer Vorgängerin wären solche Fehler nicht unterlaufen … Was stehen Sie noch herum? Wollen Sie hier Wurzeln schlagen? Los, gehen Sie endlich und helfen Sie der

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