Das Land zwischen den Meeren
Schwindel, der sie wenige Tage zuvor zum ersten Mal überkommen hatte. Sie lehnte sich an eine Hauswand, atmete tief ein und aus. Zudem spannte ihre Brust, und sie hatte am Morgen das Korsett mit den starren, einengenden Fischbeinstäben nur locker geschnürt. Glücklicherweise war sie so schlank, dass diese Unziemlichkeit nicht aufgefallen war.
Bestimmt liegt es am Wetter, beruhigte sie sich. Nach dem langen und kalten Winter waren die Temperaturen innerhalb weniger Tage um mehrere Grade gestiegen. In den Gärten und Parks sprossen die Krokusse aus der Erde hervor. Die Lindenbäume, die die Straßen säumten, zeigten erste zarte Knospen. Viele Menschen fühlten sich gerade in dieser Jahreszeit lustlos und erschöpft, klagten über Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit.
Dorothea ging weiter, ließ die Gertrudenstraße hinter sich und bog nach rechts in den Neumarkt ein. Schon von Weitem erkannte sie den kleeblattförmigen Chor des imposanten Kirchenbaus, der von zwei schlanken, hoch aufragenden Türmen flankiert wurde. Dahinter erhob sich der massige quadratische Glockenturm. Sankt Aposteln war eine der zwölf romanischen Kirchen, die das Stadtbild seit Jahrhunderten prägten und im Sommer viele Fremde anzogen, insbesondere Niederländer und Engländer.
Mit weiten Schritten umrundete Dorothea die Kirche und näherte sich einem schmalen ockerfarbenen Haus mit Spitzgiebel. Sie griff nach dem eisernen Türklopfer in Form eines Fisches. Kurz darauf hörte sie schlurfende Schritte im Innern des Hauses. Mit mürrischer Miene öffnete die alte Haushälterin und rückte ihre Haube zurecht. Als sie Dorothea erkannte, wurde ihr Gesichtsausdruck freundlicher.
»Ach, Sie sind es, Fräulein Fassbender! Kommen Sie herein. Der Herr Pfarrer ist in seinem Arbeitszimmer. Gehen Sie ruhig nach oben, Sie kennen ja den Weg.«
Pfarrer Konrad Lamprecht saß an seinem Schreibtisch, auf dem sich eine unüberschaubare Flut an ledergebundenen Folianten, Bibeln verschiedenster Ausstattung und handgeschriebenen Papieren stapelte. In einem gläsernen Vitrinenschrank neben der Tür standen dicht an dicht Madonnen- und Heiligenfiguren, einige goldene Monstranzen und ziselierte Weinkelche. Ein bereits verblasster Teppich bedeckte nahezu den ganzen Fußboden, ließ nur an den Rändern einen Streifen abgetretenes Parkett frei. Das Zimmer erinnerte Dorothea eher an eine Rumpelkammer als an die Studierstube eines belesenen Mannes.
Seit mittlerweile dreißig Jahren sorgte sich der Geistliche um das Seelenheil seiner Pfarrkinder. Von seinen Predigten sprach man in ganz Köln und Umgebung. An manchen Sonntagen kamen sogar Gläubige aus anderen Gemeinden zu ihm in die Heilige Messe, um seinen kraftvollen Worten zu lauschen. Was ihm diejenigen Mitbrüder verübelten, die dann vor halb leeren Kirchenbänken predigen mussten.
Konrad Lamprecht tauchte eine Schreibfeder ins Tintenfass, setzte schwungvoll seine Unterschrift unter einen Brief und schwenkte das Papier zwischen zwei Fingern vorsichtig in der Luft. Dabei musterte er Dorothea über seinen Zwicker hinweg aus hellen, freundlichen Augen. »Ich habe schon mit deinem Besuch gerechnet, meine Tochter. Heute Morgen traf eine frische Lieferung ein. Schau einmal nach, ob etwas für dich dabei ist.«
Er deutete mit der Feder auf eine dunkle Eichenkommode, vor der eine offene Holzkiste stand. Dorothea beugte sich hinunter und zog einzelne Bücher daraus hervor. Französische Gedichte, eine Sammlung rheinischer Sagen, prachtvoll eingebundene alte Bibeln, eine mehrbändige Reihe mit Ansichten griechischer und römischer Tempel und dann … Ihr Herz schlug höher, als sie einen braunen Lederband mit goldenen Buchstaben in Händen hielt. Ansichten der C ordilleren und Monumente americanischer Völker aus dem Jahr 1810. Es war eine Schrift des großen Forschers, den Alexanders Patenonkel auf einer seiner Reisen begleitet hatte.
Sie schlug die Seiten auf, war bald in die Darstellungen von wilden Gebirgslandschaften, rauchenden Vulkanen und Trachten vertieft. Irgendwann hörte sie die Stimme des Pfarrers und schreckte auf. »Bitte entschuldigen Sie, ich war so gefesselt …«
»Das habe ich schon bemerkt, meine Tochter. Ich freue mich, dass du eine so eifrige Leserin bist. Nimm das Buch ruhig mit nach Hause und bring es mir zurück, wenn du es studiert hast. Ich trage mich übrigens mit dem Gedanken, hie r im Pfarrhaus eine kleine Bibliothek einzurichten. Alle Gemeindemitglieder sollen gegen eine geringe Gebühr
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