Das Land zwischen den Meeren
und Mantel ab und betrat mit klopfendem Herzen das Bibliothekszimmer. Beklommen versank sie in dem weich gepolsterten Ohrensessel.
»Trifft die Ungeheuerlichkeit zu, die mir deine Mutter soeben erzählt hat?«, fragte der Vater, während sich eine tiefe Zornesfalte in seine Stirn eingrub.
Widerstand regte sich in Dorothea. Plötzlich war sie ganz sicher, dass Alexander gelitten hätte, sie so schwach und mutlos zu erleben. Sie streckte den Rücken durch und sah ihren Vater unverwandt an. »Ja, es stimmt. Ich erwarte ein Kind.«
Der Vater verzog den Mund, als quäle ihn ein unerwarteter Schmerz. »Ich kann und will es nicht glauben. Bisher nahm ich an, du seist eine anständige Tochter, eine Tochter, auf die ein Vater stolz sein könne. Weißt du eigentlich, was du uns angetan hast? Wir sind gesellschaftlich ruiniert. Kein Patient fasst Vertrauen zu einem Arzt, dessen Tochter sich mit einem Halunken eingelassen hat. Ich werde meine Praxis und mein Einkommen verlieren. Die Lebensgrundlage für uns alle.« Er lachte höhnisch auf und sprach in sarkastischem Ton weiter. »Offenbar ist es dir gleichgültig, welche Konsequenzen dein Fehltritt für deinen Vater hat. Aber hättest du nicht wenigstens auf deine Mutter Rücksicht nehmen können? Nach allem, was sie für dich getan hat …«
Dorothea wollte heftig widersprechen, empfand sie doch tiefe Dankbarkeit, in einem großen und schönen Haus aufgewachsen zu sein und keine Not kennengelernt zu haben. Dennoch war Alexander kein Halunke, und sie wusste sehr wohl, was Anstand und Ehre bedeuteten. Aber auch, wie es sich anfühlte, Liebe und Vertrauen zu erfahren. Gefühle, die sie vor allem von Seiten ihrer Mutter nie gespürt hatte und die sie auch ihren Eltern gegenüber nicht empfinden konnte. Doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Bilde dir nicht ein, ein solcher Windhund käme mir jemals ins Haus. Ein Schreiberling … warum nicht gleich ein Strauchdieb oder Tagelöhner? Ich verbiete dir jeden weiteren Kontakt mit diesem Schürzenjäger. Du wirst ihn nie wiedersehen! Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Und dann klaffte sie wieder auf, diese riesige Wunde in ihrem Herzen, und sie beschloss, ihrem Vater nicht zu erzählen, dass sie das Kind eines Verstorbenen unter dem Herzen trug. Denn er würde nichts verstehen, gar nichts. Ihre Lage war ohnehin hoffnungslos. Sie hielt sich die Hände vor die Augen und weinte. Die Tränen rannen ihr zwischen den Fingern hindurch, sie schluckte und schluchzte und konnte nicht aufhören zu weinen.
»Geh auf dein Zimmer, Dorothea, ich habe noch zu arbeiten. Und das eine sage ich dir: Ich lasse mir von niemandem meine Karriere zerstören. Und ganz bestimmt nicht von meiner eigenen Tochter.«
April 1848
Zitternd und frierend kauerte Dorothea wie ein Igel zusammengerollt unter der Bettdecke. Sie fühlte sich so zerschlagen, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und kehrten immer wieder zu den gleichen Fragen zurück. Wie sollte es mit ihr und ihrem Kind weitergehen? Wo sollten sie leben, wovon sich ernähren?
Wem hätte sie sich denn anvertrauen sollen? Wen hätte sie um Rat fragen können? Ihre beste Freundin aus Schultagen hatte zu Jahresbeginn geheiratet und war nach München gezogen. Zudem wäre ein Brief vom Rheinland nach Süddeutschland mehrere Tage lang unterwegs gewesen. Außerdem mochte Dorothea die Freundin nicht zusätzlich belasten, nachdem diese ihr vor Kurzem mitgeteilt hatte, ihr Mann leide an einem rätselhaften Ausschlag am ganzen Körper, und sie sei in großer Sorge. Bei einer anderen Freundin war unerwartet die erst zehnjährige Schwester gestorben, und Dorothea wollte sie in ihrer Trauer ebenfalls nicht ansprechen.
Ginge sie zu Pfarrer Lamprecht, stünde sie als Sünderin da und müsste etwas beichten, das weder für ihr Herz noch für ihren Verstand ein Vergehen gegen Gott war. Weil sie sich einem Mann hingegeben hatte, mit dem sie zwar heimlich verlobt, aber nicht verheiratet war. Der Pfarrer würde ihr zwanzig Vaterunser oder dreißig Ave Maria als Buße auferlegen, doch das würde sie nicht aus ihrer Zwangslage befreien.
Dann gab es noch ihre Patentante in Deutz, eine Cousine zweiten Grades ihres Vaters. Allerdings stand sie in keinem freundschaftlichen Verhältnis zu Hermann und Sibylla Fassbender. Zumindest seit etwa vier Jahren nicht mehr. Es musste etwas vorgefallen sein, wovon Dorothea nichts wuss te. Die Eltern hatten seinerzeit jeglichen Kontakt
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