Das Land zwischen den Meeren
Bild eines liebevollen Ehemannes ab, eines fürsorglichen Vaters und ehrbaren Bürgers. Diesen Eindruck zu bestärken war ihm wichtiger denn je. Wichtig für seine Pläne und für seine Zukunft …
»Übrigens – sehr gediegen, deine Klausurstube, mein lieber Hermann. Orientalische Teppiche, englisches Mobiliar, die Wände voller Gemälde. Wüsste ich nicht, dass du ein praktizierender Medicus bist, hielte ich dich für einen Antiquar. Auf jeden Fall bist du ein leidenschaftlicher Büchersammler.« Paul Lindlar deutete auf einen Nussbaumschrank, der hinter dem Rücken des Freundes nahezu die gesamte Wandbreite einnahm und bis fast zur Decke reichte. Hinter den gläsernen Türen türmten sich unzählige Medizinbücher mit Heilungsmethoden von der Antike bis zur Gegenwart, oder sie standen in dichten Reihen neben- und hintereinander. Der Beleg für den Wissensdurst eines Besessenen.
»Im Lauf meines Berufslebens habe ich mich auf die Wundheilung spezialisiert. Ich sammle alles, was mit diesem Thema zu tun hat. Sobald ich irgendwo den Nachdruck einer griechischen Lehrfibel oder die Erinnerungen eines englischen Militärchirurgen gefunden habe, kann ich einfach nicht Nein sagen«, bekannte Hermann Fassbender mit entschuldigendem Lächeln. Aus der Schreibtischschublade suchte er einen zierlichen Schlüssel und öffnete eine der gläsernen Schranktüren. Ehrfürchtig entnahm er ein Buch mit verblichenem gräulichem Ledereinband und legte es behutsam auf den Schreibtisch. Mit fast zärtlicher Handbewegung schlug er eine Seite auf. »Weißt du, was das ist?«
Paul Lindlar beugte sich vor und klemmte sich ein Monokel vor das rechte Auge. »Ein ziemlich altes Buch, würde ich sagen …«
Hermann Fassbender lächelte versonnen, sein Zeigefinger strich liebkosend über die Seite. »Mein kostbarstes Werk. Die große Wundartzney von Paracelsus. Der erste Band der Originalausgabe aus dem Jahr 1536. Die anderen neun Bände besitze ich ebenfalls«, fügte er mit einigem Stolz hinzu.
Der Freund stieß einen leisen Pfiff aus und nickte respektvoll. »Darf man wissen, wie viel du dafür gezahlt hast?«
»Es wird wohl der Jahresverdienst eines Pfarrers gewesen sein – für jeden einzelnen Band.« Er sagte dies leichthin. Bücher waren seine Leidenschaft, und dieser frönte er hemmungslos und ohne den Anflug schlechten Gewissens. Denn seine Ehefrau brauchte nicht das Geringste zu entbehren, und das Geld für die Aussteuer der Tochter war schon seit Jahren gewinnbringend bei einer Bank angelegt.
Ja, er verdiente eine Menge Geld. Aber es hatte ihn auch viel Energie und Disziplin gekostet, sich den Ruf eines Spezialisten zu erarbeiten. Er wusste bestens Bescheid über die neuesten Forschungen zum Thema Wundheilung, stand in brieflichem Kontakt mit Ärzten der Charité in Berlin, des Allgemeinen Krankenhauses Wien sowie dem ehemaligen Leibarzt Friedrichs I. von Württemberg. Hermann Fassbender war gefragt, bekannt und erfolgreich. Wenn er schon in seinem privaten Leben glücklos war, dann hatte er doch zumindest seine Arbeit, die ihn erfüllte. Ein schmerzliches Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus.
Paul Lindlar lockerte seinen Binder, schlug die Beine übereinander und lehnte sich bequem im Sessel zurück. »Warum bist du eigentlich nicht an die Universität gegangen, Hermann? Da könntest du in Ruhe deine Forschungen betreiben.«
»Ich würde dort versauern und versteinern. In einem Elfenbeinturm sitzen und gelehrte Bücher schreiben, die nur einige wenige Fachleute lesen … Nein, mein Lieber, das wäre nichts für mich. Ich brauche den unmittelbaren Kontakt zu meinen Patienten. Muss ihnen ins Gesicht sehen, ihnen eigenhändig Verbände um die Wunden legen, neue Salben und Tinkturen erproben, die jeweiligen Heilungsverläufe von Anfang bis Ende beobachten, um die unterschiedliche Wirkungsweise von Medikamenten zu erkennen. Nur so kann ich noch ein wenig besser werden.«
Der Enthusiasmus und die Begeisterung waren Hermann Fassbender deutlich anzuhören. Der Beruf war sein Lebenselixier. Die Dankesbekundungen seiner Patienten, jede erfolgreiche Behandlung waren Balsam für seine Seele. Doch das wussten weder Sibylla noch Dorothea. Und sie durften auch nie erfahren, dass seine Arbeitswut eine Flucht vor Gattin, Tochter und der eigenen Verantwortung war. Denn er konnte die fortwährenden Spannungen zwischen den beiden kaum ertragen. Wollte weder Partei ergreifen noch Schlichter sein. Nur seine Ruhe haben und sich ganz auf
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