Das Land zwischen den Meeren
Sammlungskatalog auswendig gelernt hatte, um sich als Kunstkenner aufzuspielen und sie, die junge Zeichenlehrerin, zu beeindrucken.
Lommertzheim war bereits zum Ende des Saales weitergeeilt, wo ein weiteres Gemälde seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dorothea folgte ihm. In der Heiligen, die den ehrfürchtigen Zuschauern ein Tuch mit dem Antlitz des dornengekrönten Gottessohnes entgegenhielt, erkannte sie das Bildnis der heiligen Veronika.
»Sehe ich in der Wangenpartie und dem Lächeln der Heiligen nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fräulein Dorothea?« Mit einer Hand hob Lommertzheim ihr Kinn an und drehte ihren Kopf zu sich herüber. Unwillkürlich trat Dorothea einen Schritt zurück. Ihr missfiel die plumpe Berührung ebenso wie die Art und Weise, wie der Apotheker sie einem Gegenstand gleich begutachtete. Auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Falten.
»In ähnlicher Manier hätte der Maler wohl auch Judith und Holofernes dargestellt – nachdem sie ihm den Kopf abgeschlagen hat.« Mit Genugtuung beobachtete Dorothea, wie die Mundwinkel des Apothekers zuckten und er schwer schluckte. »Übrigens auch eines dieser erhabenen Themen aus der Bibel«, fügte sie mit harmlosem Augenaufschlag hinzu.
Jetzt war es der Apotheker, der für einen Moment in Stillschweigen versank. Aber gleich darauf fing er sich und plauderte unverdrossen weiter. »Reizend, diese Unbefangenheit der Jugend. Nimmt alles nicht so ernst und ist immer zu einem kleinen Scherz bereit.« Er breitete die Arme aus und drehte sich suchend im Kreis herum. »Ich wollte dem Fräulein Dorothea doch noch ein ganz bestimmtes Bild zeigen und seine Meinung darüber erfahren … Wo ist es denn nur?« Er schritt hinüber in den zweiten Ausstellungssaal und entdeckte das Gesuchte an der Stirnseite.
Lommertzheim faltete die Hände und seufzte leise. »Dieses Bild ist durchdrungen von tiefer Frömmigkeit. Die Anbetung der Könige. Diese erlesene Farbenpracht in einem Gemälde, das fast fünfhundert Jahre alt ist, kostbare Gewänder, Brokat, Samt, Seide und Pelz. Hier ist der Atem Gottes zu spüren. Und ganz im Zentrum die Gottesmutter in einem blauen Gewand. Übrigens dasselbe Blau, das auch das Fräulein neben mir trägt.«
Dorothea ging über die Anspielung hinweg und hoffte nur, der Rundgang möge recht bald enden.
»Und wie zärtlich sie das Kind auf ihrem Schoß hält. Jesus Christus, unser aller Erlöser. Genauso demütig und hingebungsvoll stelle ich mir meine Begleiterin als Mutter vor. Hat das Fräulein schon einmal daran gedacht, diese höchste, eigentliche Bestimmung einer Frau zu finden? Zusammen mit einem Mann, der … der gut situiert ist, mitten im Leben steht und auch sonst …« Er blickte an sich hinunter und strich sich über den maßgeschneiderten grauen Tuchmantel. »… der auch sonst eine recht passable Figur abgibt.« Dabei starrte er Dorothea eindringlich über den Rand seiner Brille hinweg an und trat so dicht an sie heran, dass sie seinen Atem auf der Wange spürte.
Sie wich zur Seite aus, um keins der Gemälde hinter sich zu berühren. Wenn ihre Mutter diesen Mann nicht als künftigen Schwiegersohn auserkoren hätte, hätte Dorothea in Lommertzheim lediglich einen uninteressanten älteren Mann gesehen, der sich ungemein wichtig nahm. Einen Mann, der sich in Gegenwart ihrer Eltern zuvorkommend gab und der Mutter mit Komplimenten über ihr Aussehen schmeichelte. Der aber ihr, der wesentlich jüngeren Frau, gegenüber nur wenig Einfühlungsvermögen zeigte und sie mit nahezu jedem Satz wissen ließ, dass er sie für dumm und unbedarft hielt. Einen Mann also, auf dessen Gesellschaft sie gut und gern verzichten konnte.
Plötzlich empfand sie wieder Mutlosigkeit, wusste sie doch nicht, wie ihr Leben weitergehen sollte, wenn sie nicht die Ehefrau dieses eifrigen Marienverehrers würde. Doch die Ratschläge der Mutter, liebenswürdig und ein wenig kokett zu sein, konnte und wollte Dorothea nicht erfüllen. Und so fiel ihre Antwort alles andere als charmant aus. »Das Fräulein Dorothea sähe sich viel eher in der Rolle einer Malerin. Und in diesem Fall hätte es sich an die Worte der Bibel gehalten und die heilige Familie in einem armseligen Stall mit Ochs und Esel dargestellt und nicht in einem prunkvollen Palast, dessen Inneres vor Reichtum und Überfluss nur so strotzt.«
Der Apotheker brach in Gelächter aus. »Malerin … welch tolldreiste Gedanken dem jugendlichen weiblichen Geist doch manchmal entspringen! Aber solche
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