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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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das Wichtige konzentrieren.
    Seit der Geburt der Tochter war aus einer ehemals harmonischen Ehe eine Zweckgemeinschaft geworden. Ganz offensichtlich war das der Preis, den er, Hermann Fassbender, zu zahlen hatte. Weil jeder im Leben für irgendetwas zahlen musste … Doch hätte er anderseits ein erfülltes Privatleben geführt, dann hätte er die Medizin auch nicht als Rückzugsgebiet für sich beanspruchen müssen und wäre in seinem Beruf wohl nie so erfolgreich geworden.
    Der Freund rollte die aromatische Flüssigkeit eine Weile im Mund hin und her, bevor er sie hinunterschluckte. »Hm, dieser Cognac schmeckt ganz vorzüglich, mein Freund. Ich weiß nicht, ob ich mir mit meinem Einkommen als Bestatter ein solch edles Tröpfchen leisten könnte.« Mit ironischem Unterton sprach er weiter. »Du solltest weniger danach streben, Menschen zu heilen, mein Lieber, sondern auch an unseren Berufsstand denken.«
    Hermann Fassbender lachte leise auf. Die Liste derer, die sich von ihm heilen lassen wollten, war lang, und er konnte mittlerweile bestimmen, wer zuerst an die Reihe kam. Das waren die Reichen, die Geistlichen und die Adligen, diejenigen, die sich seinen Rat etwas kosten ließen. Doch Geld allein verschaffte ihm längst keine Befriedigung mehr. Ihm ging es um Höheres.
    Er nahm einen Schluck aus dem Glas, zog an der Zigarre, und dann sprach er nach einigem Zögern aus, was er noch niemandem anvertraut hatte. Was er aber endlich einem Menschen mitteilen musste, weil es ihn zu zerreißen drohte. »Wenn du es für dich behältst, Paul, dann verrate ich dir ein Geheimnis. Man hat Großes mit mir vor. Ich soll den Orden Pour le Mérite für besondere Verdienste auf dem Gebiet der Medizin erhalten. In zwei Monaten wird ein Ausschuss darüber entscheiden. Die Verleihung wird König Friedrich Wilhelm der Vierte persönlich vornehmen.«
    Die Hand, die die Zigarre hielt, zitterte vor Aufregung. Er stellte sich vor, wie es wäre, endlich am Ziel seiner Träume zu sein. Wenn er für alle öffentlich sichtbar den Lohn einfahren würde für seine Verdienste. Denn er würde diesen Titel auf seinem Praxisschild, seinen Briefbogen und Visitenkarten führen. Vielleicht würde er über der Ehrung auch vergessen, worunter er von klein auf gelitten hatte und was er gern verschwieg, wenn die Frage nach seiner Herkunft gestellt wurde. Weil nämlich seine Mutter eine Weißwäscherin und er ohne Vater bei den Großeltern aufgewachsen war. Und dass er sich sein Studium nur mit großem Fleiß und in unzähligen Nachtschichten als Lagerarbeiter verdient hatte. Die Stimme des Freundes riss ihn aus seinen Grübeleien.
    »Von mir erfährt niemand etwas, Hermann, versprochen. Aber sollten wir nicht darauf noch einen trinken?«
    »Ein großartiger Vorschlag.« Hermann Fassbender schen kte nach und erhob das Glas. »Auf uns, Paul. Auf unsere Freundschaft und darauf, was uns die Zukunft bringt.«
    Dorothea zog ihre Stiefeletten vor der Haustür aus und schlich auf Zehenspitzen durch die Diele. Es war mittlerweile halb neun, das Abendessen längst beendet. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, doch sie verspürte weder Hunger noch Durst. Sie wollte nur noch in ihr Zimmer, sich unter der Bettdecke verkriechen und darauf warten, dass sie entweder irgendwann aus einem bösen Traum erwachte – oder der Himmel über ihr einstürzte.
    Da sah sie durch den Türspalt am Boden Licht im Bibliothekszimmer brennen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie lautlos daran vorbeizuhuschen versuchte. Plötzlich öffnete sich die Tür. Der Vater stand vor ihr, und obwohl er nur einen halben Kopf größer war als sie selbst, wirkte er riesig und bedrohlich. Es schien, als wolle er jeden Augenblick wie ein Löwe losbrüllen, und es kostete ihn spürbar Mühe, die Stimme zu dämpfen.
    »Was denkst du dir dabei, so spät nach Hause zu kommen? Deine Mutter und ich waren in größter Sorge, wir wollten schon die Polizei benachrichtigen.«
    Dorothea stockte, stotterte und wusste nicht, was sie antworten sollte. »Ich … ich war … in der Stadt unterwegs … und da habe ich wohl die Zeit aus dem Auge verloren.«
    »Eine dümmere Ausrede fällt dir wohl nicht ein, wie? Als gäbe es keine Kirchtürme mit Uhren, an denen die Zeit abzulesen ist. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«
    Dorothea zuckte zusammen. So aufbrausend hatte sie ihren Vater noch nie reden hören. Er, der doch meist gleichmütig wirkte und jeglichem Disput aus dem Weg ging. Sie legte Hut

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