Das Land zwischen den Meeren
ernst. »Deswegen sind Sie also gekommen … Ja, es ist furchtbar und für uns alle unfassbar …«
Etwas schnürte Dorothea die Luft ab. Ein stummer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Nein, sie wollte nicht hören, was sie bereits ahnte.
»Wir haben mittlerweile die traurige Gewissheit. Einer der Toten ist Herr Weinsberg, ein Mitarbeiter unserer Lokalredaktion. Ein überaus fähiger junger Mann. Vor ihm lag eine große Zukunft. Sind Sie eine Angehörige?«
Dorothea nickte und rannte tränenblind aus dem Raum. Sie wankte hinaus auf die Straße, wo die Menschen, jeder mit sich selbst beschäftigt, achtlos an ihr vorbeieilten und wo das Leben so war wie immer. Obwohl für sie nichts mehr so war wie zuvor. Denn der Geliebte würde nicht mehr zurückkommen. Ohne ihn als Ehemann an ihrer Seite wäre sie ohne Schutz und ohne Zukunft. Ein Nichts. Ihr Kind würde heranwachsen und seinen Vater niemals kennenlernen.
Wie betäubt und ziellos irrte Dorothea durch die Stadt. Irgendwann stand sie vor dem Tanzcafé am Heumarkt, wo Alexander ihr das erste Mal einen Kuss gegeben hatte, dann plötzlich vor dem Tor des Botanischen Gartens und blickte hinüber zur Kuppel des Gewächshauses. Sie hörte seine zärtlich geflüsterten Worte dicht an ihrem Ohr. Willst du denn nicht meine Frau werden und mit mir kommen? Die geliebte Stimme kam wie aus weiter Ferne und klang unwirklich.
Es drängte sie, zu dem verwitterten braunen Haus mit der heimeligen Dachkammer zu laufen, wo sie einander umarmt, sich ewige Liebe geschworen hatten und Mann und Frau geworden waren. Dort hatte Dorothea die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht. Sie hätte so gern noch einmal hinaufgeschaut zu dem kleinen Fenster mit den grünen Schlagläden, hinter dem Alexanders Schreibtisch stand, an dem er stundenlang gearbeitet und dabei oftmals an sie gedacht hatte. Doch ein übermächtiger Schmerz hielt sie davon ab, den Fuß in jene Straße zu setzen, und stak wie ein langes, spitzes Messer mitten in ihrem Herzen.
Dorothea sah sich selbst dabei zu, wie sie kraftlos durch den mächtigen Chor der Kirche Sankt Aposteln zum Seitenschiff stolperte, bis sie vor dem Marienaltar stand. Mit zitternder Hand entzündete sie eine Kerze, kniete nieder und versank leise schluchzend im Gebet.
Irgendwann hörte sie Gemurmel hinter sich. Das Gotteshaus füllte sich mit Gläubigen, die auf den Kirchenbänken Platz nahmen und die Abendandacht zelebrieren wollten. Dorothea erhob sich mit steifen Gliedern und trat durch das Portal ins Freie, während die Kirchenglocken die siebte Abendstunde verkündeten.
Hermann Fassbender schob die elegante Lackholzkiste bis an die Schreibtischkante und klappte den Deckel auf, der mit einer verschnörkelten Aufschrift in silberfarbenen Buchstaben versehen war. »Bitte, Paul, bedien dich!«
Paul Lindlar machte eine abwehrende Handbewegung und hob entschuldigend die Schultern. »Ich würde schon gern, aber mein Arzt hat mir das Rauchen verboten.«
»Dann verordne ich dir in meiner Eigenschaft als Freund und ärztlicher Ratgeber stattdessen ein Gläschen in Ehren.« Hermann Fassbender trat an einen intarsienverzierten Sekretär und holte eine Karaffe mit Cognac sowie zwei Gläser heraus. Augenzwinkernd schenkte er die honigfarbene Flüssigkeit ein. »Sehr zum Wohl, mein Lieber! Meine Frau verträgt keinen Qualm. Er schlägt ihr auf die Bronchien. Aber hier, in meiner Praxis, lasse ich mir zum Feierabend gelegentlich ein Zigärrchen schmecken.«
Er schnitt ein Loch in das Mundstück und zündete die Zigarre an, nahm einige tiefe Züge und blies den Rauch in kunstvollen Kringeln in die Luft. »Schade, dass du nicht zum Abendessen bleiben kannst, Paul. Es gäbe so viel zu erzählen. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?«
»Warte … das war bei unserem ersten Klassentreffen. Also vor mehr als zwanzig Jahren. Du warst bereits ein aufstrebender junger Arzt, und ich hatte gerade das Bestattungsgeschäft meines Onkels in Düsseldorf übernommen, erinnerst du dich? Deine Gattin habe ich damals leider nicht kennengelernt. Wenn ich mich recht entsinne, war sie guter Hoffnung und zu ihren Verwandten gereist. Irgendwo nach Süddeutschland.«
Hermann Fassbender sog hastig an der Zigarre und nickte. Sein Blick glitt hinüber zu den beiden emaillierten Medaillons auf seinem Schreibtisch, die Sibylla und Dorothea zeigten. Zwei auf ihre Art schöne, sehr gegensätzliche Frauen, um die ihn die meisten Männer beneideten. Mit ihnen zusammen gab er das
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