Das Land zwischen den Meeren
gruseligeren Erzählungen an, zeigten sich furchtlos und freuten sich über den kurzweiligen Abend.
Wieder einmal schlug das Wetter innerhalb weniger Stunden um. Die Temperaturen sanken, Regen und Nebel bestimmten die Passage, je näher sie zur Südspitze Amerikas gelangten. Die meisten Passagiere blieben unter Deck, da es ihnen oben zu kalt und zu ungemütlich war und um zu verhindern, dass ihre Kleidung fortwährend durchnässt wurde. Ohnehin rochen alle Stoffe muffig und fühlten sich klamm an, weil sich auf dem Schiff nichts vollständig trocknen ließ. Die abgestandene Luft im Zwischendeck, wo es weder Fenster noch frische Luft gab, vermischte sich mit den Körperausdünstungen der Menschen.
Als sie Kap Horn umrundeten, die legendäre, gefahrenreiche Landspitze auf der chilenischen Felseninsel Isla Homos, dem südlichsten Punkt des amerikanischen Kontinents, herrschte dichter Nebel. Dorothea stand in ihren Mantel und dicke Schultertücher gehüllt an der Reling. Sie hatte gehofft, die schwarzen Kegelberge skizzieren zu können, doch deren Umrisse waren nur zu erahnen. Ein Poltern und ein gellender Aufschrei rissen sie aus ihren Betrachtungen.
»Schnell! Zu Hilfe! Mein Vater … es geht ihm schlecht!«
Dorothea wandte sich um und sah Peter, den ältesten der Kampmann-Söhne, kreidebleich zur Kommandobrücke stürzen. Der Schiffszimmermann, der offenbar medizinische Kenntnisse besaß und den Dorothea öfter bei der Versorgung kleinerer Wunden der Matrosen beobachtet hatte, folgte dem Jungen ins Zwischendeck hinab.
Dorothea war unschlüssig, ob sie ebenfalls hinuntersteigen sollte. Doch was hätte sie ausrichten können? So blieb sie oben und betete, Gott möge den drei Kindern nicht den Vater und der Frau nicht den Mann nehmen. Nach einiger Zeit sah sie Elisabeth aus dem Niedergang heraufkommen. Und erkannte an deren Gesichtsausdruck, dass ihr Gebet nicht erhört worden war.
Scharfer Wind blies von Süden, trieb den Dreimaster vor sich her. Einer der Schiffsjungen läutete die Schiffsglocke, ein anderer hisste eine schwarze Flagge. Die Trauerfeier konnte beginnen.
»Nunmehr hat Erwin Kampmann seine irdische Heimat verlassen und ist heimgekehrt in die Ewigkeit. Gott, wir bitten dich, nimm dich der Seele des Verstorbenen an und lass ihn einkehren in die Seligkeit des ewigen Lichtes. Wir übergeben seinen Körper dem Meer, aus dem einst alles Leben entstand.«
Bei den Worten des Kapitäns hatten die Seeleute ihre Mützen abgenommen und schauten stumm und mit unbewegter Miene in die Ferne. Die Männer unter den Passagieren hielten ihre Hüte in den Händen und starrten zu Boden. Die Frauen und Kinder hatten Tränen in den Augen. Helene Kampmann wurde links und rechts von ihren Söhnen Peter und Paul gestützt. Lotte stand fast teilnahmslos neben ihnen. Sie schien den Tod des Vaters überhaupt noch nicht begriffen zu haben.
Helene Kampmann schluchzte auf, wollte etwas sagen, doch sie brachte nur ein Krächzen hervor. Der Leichnam ihres Mannes war in ein weißes Tuch gehüllt worden. Als drei Matrosen ihn auf die Schultern hoben, riss sie sich von ihren Kindern los und rannte quer über das Deck. »Erwin, ich komme mit dir!« Sie schickte sich an, über die Reling zu klettern, und wurde von zwei Schiffsjungen zurückgehalten. Nachdem sie sich eine Weile vergeblich gewehrt hatte, sank sie schluchzend auf die Knie und streckte die Hände zum Himmel. »Warum hat er nicht auf mich gehört? Ich habe nicht weggewollt, ich nicht! Jetzt steh ich da, allein mit drei Kindern.« Ein neuerlicher Weinkrampf schüttelte ihren Körper.
Inzwischen hatten die drei Matrosen den Leichnam über die Reling gehievt. Die Wellen peitschten heftig gegen die Bordwand, sodass der Aufprall des Körpers auf dem Wasser nicht zu hören war. Nur mit Mühe und sanftem Zureden gelang es Dorothea und Elisabeth, der Trauernden auf die Beine zu helfen. »Kommen Sie, Frau Kampmann. Sie brauchen Ruhe und etwas Heißes zu trinken.«
In der Kombüse sank Helene Kampmann kraftlos auf einen Stuhl und ließ sich fast willenlos Tee mit einem Schuss Rum einflößen. Die anderen Reisenden, auch die Männer, gesellten sich zu ihnen und schauten betreten zu ihr herüber. Ihre Schwester Anna Meier saß neben ihr und legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern.
»Wir müssen zusammenhalten, Helene« erklärte mit fester Stimme Hans Meier, ein kahlköpfiger Riese mit kindlichen Gesichtszügen. »Du bist meine Schwiegerschwester, wir sind eine Familie.
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