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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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entkommen. Floh nur vor den heftigen Regenschauern unter Deck, die manchmal einige Stunden lang währten, manchmal mitten in der Nacht einsetzten und hin und wieder auch zwei oder drei Tage lang ununterbrochen anhielten. Dann wurden alle Luken geschlossen, und die Passagiere mussten im stickigen Schiffsrumpf ausharren. Wenn Dorothea sich dann wieder nach draußen wagte, hatte der Regen kaum Abkühlung gebracht. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte mit nie gekannter Kraft auf sie herab. Elisabeth hatte ihr einen ihrer Sonnenschirme geliehen, doch lieber stellte sie sich in den Schatten, den die großen weißen Segel spendeten.
    Dann wechselten sich wieder Böen, Regen und Sonnenschein ab. Die Reisenden erfuhren erst am Morgen danach, dass sie während der Nacht den Äquator passiert hatten. Und zwar auf der Atlantikseite, in Richtung Süden, auf der Höhe von Brasilien. Später würden sie ihn ein zweites Mal passieren, auf dem Pazifik und in umgekehrter Himmelsrichtung, nachdem sie Kap Horn umrundet hätten, die Südspitze Südamerikas. Aber das würde noch mehrere Wochen dauern.
    »Warum segeln wir eigentlich nicht weiter westwärts und legen an der Atlantikküste von Costa Rica an? Dann wären wir schon fast am Ziel. Der Weg um Kap Horn herum ist doch viel, viel weiter.« Rufus Reimann, ein zierlicher elfjähriger Blondschopf mit dem fröhlichen Sommersprossengesicht aller Reimann-Kinder, stemmte die Hände in die Hüften und musterte den Bootsmann zweifelnd von unten herauf.
    »Weil es auf der Atlantikseite keinen Hafen gibt, in dem wir anlegen könnten, Herr Naseweis. Und selbst wenn es einen Hafen gäbe, kämen wir trotzdem nicht weit. Gleich hinter der Küste bis tief ins Landesinnere breitet sich dichter Urwald aus. Undurchdringlicher Dschungel, durch den kein einziger Pfad führt. Mit Jaguaren, Schlangen, giftigen Fröschen und so langen Krokodilen.« Der Matrose legte ein Tau auf den Planken aus, das beinahe über die halbe Achterdecklänge reichte. »Nur einige wenige Indios trauen sich in dieses Dickicht und jagen Affen und Papageien. Aber auch von denen ist schon manch einer mit Sumpffieber zurückgekehrt. Und kurz darauf gestorben. Deswegen müssen wir am Pazifik anlegen. In die Hochebene von San José gelangt man nur von Westen aus.«
    Dorothea lauschte dem Gespräch voller Aufmerksamkeit. Sie mochte den wissbegierigen Jungen, der sie schon manches Mal mit seinen Fragen in die Enge getrieben hatte. Aber solche Schüler waren ihr die liebsten. Auch diesmal mochte Rufus sich mit der Antwort des Bootsmannes nicht zufriedengeben.
    »Gibt es denn nirgendwo einen Fluss, der von einem Ozean zum anderen fließt und auf dem unser Schiff entlangsegeln kann?«
    Langsam ließ der Seemann das Tau durch die Hände gleiten, prüfte kritisch mit Augen und Fingerkuppen, ob er irgendwo eine schadhafte Stelle fand. »Also, die Flüsse in Costa Rica entspringen in den Bergen, und sie fließen entweder Richtung Osten, zum Atlantik, oder Richtung Westen, zum Pazifik. Es gibt keinen Weg, der vom Atlantik zum Pazifik führt, weder zu Land noch zu Wasser.«
    Dorothea beobachtete amüsiert, wie der elfjährige Junge die Stirn in Falten legte. Für einen Moment schloss er die Augen und kratzte sich hinter dem Ohr, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte.
    »Wäre es denn nicht möglich, einen Durchgang zu schaffen und die beiden Ozeane miteinander zu verbinden?« Er zog eine zusammengefaltete Karte von Nord- und Südamerika aus der Jacke und klappte sie auf. Mit einem Finger wies er auf eine Stelle genau in der Mitte. »Nämlich hier, wo das Land ganz schmal ist. Also irgendwo zwischen Panama und Honduras. Eine Schiffspassage würde sich um Wochen und Monate verkürzen.«
    Ein Bild drängte sich in Dorotheas Erinnerungen. Alexander hatte ihr in einem Café einmal eine solche Landkarte gezeigt. Als sie miteinander gelacht hatten, glücklich gewesen waren und ihre gemeinsame Zukunft geplant hatten. Mit Macht verdrängte sie das Gefühl von Wehmut, das sie jäh überfiel. Der Bootsmann schob die Zungenspitze durch die Zahnlücke und schüttelte mitleidig den Kopf.
    »Du bist nicht nur ein Naseweis, sondern auch ein Fantast. Wie soll man denn auf einer Länge, die der Entfernung von mehr als fünfzig Seemeilen entspricht, das Land durchtrennen, hä? Durch Dschungel, Sümpfe und Seen? Willst du eine Schaufel nehmen und irgendwo mit dem Graben anfangen? Nein, nein, eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Schiff

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