Das Land zwischen den Meeren
hinter der eleganten Fassade eines Patrizierhauses in der Kölner Innenstadt gefangen gewesen wäre. Dienstboten beaufsichtigen, Kaffeekränzchen abhalten, eine Reihe von Kindern gebären und den Anweisungen ihres Mannes hätte Folge leisten müssen. Ein belangloses, vorhersehbares Leben geführt hätte. Bei solchen Gedanken fühlte sie sich bestärkt, das Wagnis eingegangen zu sein. Sie würde in Costa Rica ihren Weg und ihren Platz finden. Dessen war sie sich sicher.
Mit steigenden Temperaturen hatte Dorothea immer öfter das Bedürfnis, sich so häufig wie möglich an Deck aufzuhalten, ihr Spanischwörterbuch zur Hand zu nehmen oder aufs Meer zu schauen. Stand sie an Steuerbord, sah sie an manchen Tagen in der Ferne das chilenische Festland vorüberziehen. Die Backbordseite bot ihr einen freien und grenzenlosen Blick auf den Pazifischen Ozean. Einmal entdeckte sie in nicht allzu großer Entfernung einen Schwarm Sturmvögel, die sich auf einen großen Gegenstand stürzten, der im Wasser schwamm. Sie nahm das Fernrohr, das der Obersteuermann ihr und Elisabeth für die Zeit an Bord zur Verfügung gestellt hatte, und entdeckte einen toten Wal, der die Vögel angelockt hatte.
Der Geruch eines beißend scharfen Rasierwassers riss sie aus ihren Beobachtungen. Sie ließ das Fernrohr sinken. Dicht neben ihr stand Erik Jensen. Die Sonne hatte sein Gesicht gebräunt. Offenbar führte er genügend Kleidung im Gepäck mit sich, um immer wieder mit sauber geplätteten Hemden und diversen Anzügen in unterschiedlichen Blau- und Grautönen zu erscheinen. Dorothea trat einen Schritt zur Seite. Ihr künftiger Dienstherr sollte keinesfalls riechen, dass ihr Kleid keineswegs frisch gewaschen war. Was sie unten im Zwischendeck inzwischen nicht mehr störte, weil dort jeder denselben muffigen Geruch verströmte.
Zwar hatte Elisabeth ihr anfangs mit Waschsoda ausgeholfen, weil das Salzwasser die Wirkung von Seife herabsetzte. Doch die damit behandelten Kleidungsstücke wurden steif und klebrig und fühlten sich auf der Haut höchst unangenehm an. Weswegen Dorothea das Waschen wieder aufgegeben hatte.
Jensen neigte sich vertraulich vor. Es schien, als wolle er eine harmlose Plauderei beginnen, doch plötzlich flackerte es gefährlich in seinen Augen. »Wie geht es Ihnen dort unten, Fräulein Fassbender? Nach all den Monaten. Ich stelle es mir reichlich anstrengend vor, immer mit fremden Menschen auf engstem Raum leben zu müssen.«
»Keineswegs, Herr Jensen. Meine Mitreisenden sind allesamt reizende Menschen. Ich empfinde ihre Gesellschaft als überaus kurzweilig. Es wird viel gelacht bei uns.« Während sie mit eindringlicher Stimme sprach, rückte Dorothea unauffällig immer weiter von ihrem künftigen Dienstherrn ab. In ihre Nase drang ein Geruch, der sich mit dem des Rasierwassers mischte. Der Geruch von Alkohol.
»Aber mein Fräulein, das soll ich Ihnen glauben? Nein, diese primitiven Menschen sind kein Umgang für Sie. Ich mache Ihnen ein Angebot. Sollten Sie irgendwann das Bedürfnis haben, einmal allein zu sein, sich für einige Stunden zurückziehen zu wollen …« Jensen verzog den Mund und entblößte eine Reihe von Zähnen, die für einen Mann seines Alters überraschend vollzählig waren. Er trat einen Schritt auf Dorothea zu, dann einen weiteren. »Also, ich würde Ihnen gern meine Kabine zur Verfügung stellen. Damit Sie sich erholen können. Tagsüber, und wenn Sie wollen, auch nachts.«
Immer näher rückte Jensen. Sein eben noch mildes, väterliches Lächeln war verschwunden, und stattdessen zei gte seine Miene nackte Gier. Dorotheas Herz klopfte. Wie sollte sie der verfänglichen Situation entkommen, ohne einen eingeschüchterten Eindruck zu erwecken? Ihre rechte Schulter berührte bereits die Wand zum Niedergang, links neben ihr ruhte Jensens Arm auf der Reling. Sie spürte seinen Atem auf der Wange. Ihr blieb keine Zeit zum Überlegen. Blitzschnell duckte sie sich, um unter Jensens Arm hinwegzutauchen, stieß jedoch mit der hohen Krempe ihrer Schute gegen seinen Ärmel. Der Hut rutschte ihr in den Nacken, die Bänder schnürten ihr den Hals zu. Sie strauchelte und landete unsanft auf den Schiffsplanken. Auf dem Hinterteil.
»Ach, hier sind Sie, Fräulein Fassbender! Ich habe Sie schon gesucht … Oh Verzeihung, störe ich?« Mit leiser Verwunderung blickte Elisabeth von Wilbrandt zwischen Dorothea und Jensen hin und her.
»Keineswegs, gnädiges Fräulein.« Während Jensen die eine Hand Dorothea
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