Das Land zwischen den Meeren
Gemeinsam werden wir es schaffen.«
»Ich hätte ihn davon abhalten sollen, auf dieses verdammte Schiff zu gehen, so krank wie er war«, jammerte die Witwe und fuhr sich mit einem Taschentuch über die geröteten, verquollenen Augen. »Wären wir doch nur zu Hause geblieben!«
»Aber Vater hat es doch so gewollt.« Peter Kampmann schluckte die Tränen hinunter, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und schniefte. »Ab sofort nehme ich seine Stelle ein. Und ich werde dafür sorgen, dass sich sein Wunsch nach einem besseren Leben für uns alle erfüllt. Ich kann Vaters Arbeit verrichten. Ich bin stark, ich werde pflügen, jäten und Holz hacken.« Dabei reckte er die dünnen Arme. »Sieh nur, meine Muskeln!«
»Und ich auch«, meldete sich sein ein Jahr jüngerer Bruder Paul zu Wort und wies stolz auf seine schmächtigen Oberarme.
»Das Schicksal hat uns auf diesem Schiff zusammengeführt. Wir lassen Sie nicht im Stich. Sie können sich auf uns verlassen.« Else Reimann, die den Angriff von Helene Kampmann längst vergessen hatte, streckte die Hand vor und legte sie sacht auf den Arm der Witwe. Bis tief in die Nacht wurde im Zwischendeck diskutiert, getrauert und getröstet.
Am Abend, als Dorothea in ihrer Koje lag, weinte sie lautlose Tränen. Die Trauerfeier hatte Erinnerungen in ihr geweckt. Sie dachte an Alexander und an das Kind, das sie verloren hatte, und verspürte eine große Einsamkeit, die ihr das Herz schwer machte. Sie wusste nicht, was in dem fremden Land auf sie zukommen würde, und vor allem wusste sie nicht, was sie von Erik Jensen noch zu erwarten hatte. Und das machte ihr Angst.
September 1848
Nach der Umrundung von Kap Horn segelte die Kaiser Ferdinand in Sichtweite der chilenischen Küste Richtung Norden, dem Äquator entgegen. Mehr als hundert Tage war sie mittlerweile unterwegs, nahezu achttausend Seemeilen von Hamburg entfernt. Und noch mehr als viertausend Meilen lagen vor ihr. Während dieser drei Monate waren sechs Rahsegel und drei Stagsegel gerissen, der Klüverbaum war gesplittert, und zwei Festmacherleinen waren über Bord gegangen. Ein Matrose war, vermutlich in betrunkenem Zustand, beim nächtlichen Kontrollgang über einen Eimer gestolpert, hatte sich den Fußknöchel gebrochen und eine Platzwunde an der Stirn zugezogen. Ein weiterer hatte unter einer eitrigen Beule am Knie zu leiden gehabt. Vom Seemännischen her gab es selbst bei heftigstem Seegang keine ernsten Schwierigkeiten, der betagte Frachtsegler hatte bereits Hunderttausende von Seemeilen auf den Weltmeeren hinter sich. Und der Kapitän war bekannt als ein Routinier, der nicht viele Worte machte und das Schiff und seine Mannschaft fest im Griff hatte.
Für die Passagiere war es, mit Ausnahme des Kaufmanns Erik Jensen, die erste Seereise. Während dieser Monate hatten sie Windstille und Sturm, Gewitter und Regenschauer, gleißende Sonne und unbehagliche Kälte erlebt. Die meisten waren von Übelkeit, Angstzuständen und Schlaflosigkeit geplagt gewesen. Alle hatten über das fade, eintönige Essen geklagt und nur dann Abwechslung im Speiseplan erlebt, wenn die Seeleute mehr Fische gefangen hatten, als sie und die Passagiere der ersten Klasse verspeisen konnten, oder wenn sie einen Albatros erlegt hatten, der ihnen zu zäh war. Als schlimmster Schicksalsschlag aber galt der Tod eines der Mitreisenden.
Waren vor dem schrecklichen Ereignis manche Zwistigkeiten unter den Kindern und Erwachsenen zu beobachten gewesen, so erwies man von diesem Tag an der Witwe und den Kindern des verstorbenen Erwin Kampmann nichts als Anteilnahme und Hilfsbereitschaft. Die verloren gegangene Kette von Frau Behrens hatte anfangs noch für hitzige Debatten und heimliche Verdächtigungen gesorgt, doch mittlerweile kümmerte es niemanden mehr, wo das Schmuckstück abgeblieben sein mochte. Bis zur Ankunft im Zielhafen Puntarenas würde noch mehr als ein Monat vergehen. Und bis dahin hatte jeder genug mit sich und seinen Gedanken um die ungewisse Zukunft zu tun. Das monatelange Eingepferchtsein auf engstem Raum hatte die Sinne der Passagiere anfangs gereizt, mit der Zeit jedoch abgestumpft.
Dorothea sehnte das Ende der Reise herbei. Wenn sie endlich wieder für sich allein in einem Raum schlafen, sich regelmäßig waschen und umkleiden konnte. Doch immer dann, wenn Selbstmitleid aufkommen wollte, malte sie sich ihr Leben aus, hätte sie die Reise nicht angetreten. Wenn sie womöglich als Ehefrau des selbstgefälligen Apothekers Lommertzheim
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