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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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näher treten und sie euch ansehen. Erst müsst ihr zu den Versorgungsfeldern hinausreiten – ich werde zuweisen, wer wohin reitet – und, sobald ihr ankommt, dafür sorgen, dass sie niedergebrannt werden. Wenn die Feldfrüchte nass sind und nicht brennen wollen, dann zerstört ihr sie auf welche Weise auch immer. Rinder und andere Nutztiere könnt ihr erschießen oder verjagen. Aber treibt sie nicht in die Zuckerrohrfelder. Während die Neger damit beschäftigt sind, ihre Feldfrüchte und ihr Vieh zu retten, werden wir ins Dorf reiten und so viele von ihnen aus ihren Häusern vertreiben, dass diese undankbaren, starrköpfigen Geschöpfe wieder zum Gehorsam gezwungen werden.«
    Nachdem Robert Goodwin alle seine Anordnungen erlassen hatte, forderte er den unruhigen Mob auf, die Köpfe zu senken und in sein Gebet einzustimmen. »Allmächtiger Gott«, begann er, »der keinen Gefallen hat am Tode des Gottlosen, sondern dass sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und lebe – gewähre uns an diesem Tage den Segen, die Neger von Amity von ihrem bösen Wesen zum Pfad der Tugend zu bekehren, damit sie wieder auf dieser Plantage arbeiten, wie es deinem göttlichen Willen entspricht. Amen.«
    Erst vor Kurzem aus England gekommen … noch ein bisschen grün hinter den Ohren … sein Vater daheim ein Pfarrer … glaubt, dass wir zu den Niggern nett sein sollen … gut verheiratet
– dies war der bescheidene Ruf, den Robert Goodwin sich bei den Männern, die jetzt vor ihm standen, erworben hatte. Doch nachdem er die Andacht beendet hatte, hob er den Kopf und sagte: »Lasst keinen Zweifel daran, ihr alle, ich will, dass ihr jeden Einzelnen dieser Neger in Angst und Schrecken versetzt und ihm den Lebensunterhalt entzieht, bis er mich anbettelt, wieder für mich arbeiten zu dürfen.« Und vor lauter Respekt kräuselten alle, die zu ihm aufsahen, Lippen und Stirn.

DREISSIGSTES KAPITEL
    Als July es an ihrer Tür leise »Marguerite« flüstern hörte, glaubte sie zuerst, es sei der Wind, der durch einen Spalt wehe. »Marguerite.« Oder vielleicht war es der Ruf einer nächtlichen Fledermaus? »Marguerite, bist du da?« Oder vielleicht ein Gespenst, das im Garten umherschlich? Dass es die Missus war, glaubte sie nicht. Denn seit die Missus Robert Goodwin zum Mann genommen hatte, wäre sie eher durchs ganze Haus gewandert, hätte lieber den ganzen Garten umkreist, als die Stufen zu Julys Zuhause hinabzusteigen. Wäre die Missus je von irgendwelchen Umständen gezwungen worden, an Julys Bleibe vorüberzugehen, sie hätte sich der gekalkten Holztür zu jenem intimen Raum im Keller des Hauses mit geschlossenen Augen genähert und sich mit den Fäusten die Ohren zugehalten.
    Darum war July, als sie die Tür öffnete, beunruhigt, ihre Missus vor sich zu sehen. Da das Mondlicht alle Farben dämpfte, wusste July, dass die graue Gesichtsblässe ihrer Missus in Wahrheit gerötete Wangen und rot geränderte Augen verdeckte. Doch das unwillkommene füllige Gesicht in der offenen Tür – so verängstigt und besorgt, dass selbst die blonden Locken zitterten – veranlasste July zu der Bemerkung: »Ha, was wollt Ihr? Brauch Euch jetzt nich’ zu bedienen.«
    »Komm und setz dich zu mir«, sagte die Missus zu ihr.
    July sog lange an den Zähnen. Dass diese Frau sie Marguerite nannte, war Fluch genug, aber dass die Missus ihr befahl, sich zu ihr zu setzen, als sei sie noch immer ihre Sklavin, vergrößerte ihn noch. Sich zu ihr zu setzen! Ha! Als die Missus
das letzte Mal Julys Gesellschaft gewünscht hatte, hatte sie noch über die blauen Augen des Aufsehers gekichert.
    Sie hatte July nicht ins Gesicht geblickt, seit … nun, seit Julys schwangerer Bauch sich so weit vorgewölbt hatte, dass er nicht mehr zu übersehen war. Als der Missus aufging, dass July ein Kind unterm Herzen trug, war sie so fassungslos gewesen, dass sie July mit der großäugigen Verzweiflung eines Hundewelpen ins Gesicht starrte, der ertränkt werden soll. Beinahe hätte July Mitgefühl für sie empfunden, als die Missus vor jener Ausbuchtung zurücktaumelte, um ihrem bitteren Sinn zu entfliehen. Seit jenem Tag hatte die Missus July nicht einmal mehr angesprochen – sie klatschte in die Hände, schlenkerte mit den Gliedern, schnalzte mit der Zunge, schlug auf den Tisch, schnipste mit den Fingern, fuchtelte mit den Armen, doch jeder Befehl erfolgte stumm.
    »Bitte, Marguerite, bitte komm und setz dich zu mir.« Ohne jeden Zweifel flehte die Missus sie an, und in Julys

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