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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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zu dienen. July war nur gebeten worden, sich zu ihr zu setzen. War es nicht July, die das Wurm des Hausherrn nährte? War es nicht July, die dessen Goldkette mit dem Kreuz am Hals trug? War es nicht July, die fest in Robert Goodwins Herzen schlummerte und sich nur nach seinem Willen regte?
    July zauderte, sie wartete darauf, dass Robert Goodwin den Beistand seiner Missus abschütteln und die Hand zu ihr ausstrecken würde. July rechnete damit, dass er sie gleich darum bitten würde, ihm aus den Stiefeln zu helfen. Gleich würde er sein Kind betrachten wollen – ihm mit dem Finger sanft über die Wange streicheln oder seine Anmut begurren. Also wartete July darauf, dass er knurrte: »Ach, Himmel noch eins, Caroline, lass mich in Ruhe«, sodass sie ein Hohnlachen durchs Zimmer würde schicken können, das für die Missus wie eine hämische Ohrfeige wäre. Als Robert Goodwin sie jedoch wenig rücksichtsvoll anfuhr: »Du hast deine Herrin gehört, Marguerite. Bring Wasser«, war es July, die unerwartet eine Ohrfeige bekam.
    Am nächsten Morgen fand July ihren großen, großen Mann mit den blauen Augen, ihren süßen, süßen Massa, nicht etwa dicht an sie geschmiegt, sein schaler Morgenatem warm an ihrem Ohr, sein schurkisches Knie in ihr Kreuz gedrückt, in ihrem Bett vor. Nein. Robert Goodwin ruhte in seiner Hängematte auf der Veranda.
    Und hatte er früher, wenn sie ihn beobachtete, in ruhigem Schlummer dagelegen, hingestreckt wie ein Neugeborenes, so
zuckte er jetzt unablässig. Seine Zähne schnatterten wie in stummem Gespräch. Seine Augen, hinter umwölkten Lidern verborgen, flatterten unruhig. Seine Arme umklammerten krampfhaft eine Pistole. Als sie sich näherte, schrak er plötzlich mit dem Ruck eines furchtsamen Beutetiers auf.
    »Hast du das Muschelhorn blasen hören?«, fragte er sie.
    Und July, die mit einem Mal innewurde, dass dieser helle blaue Morgen tatsächlich friedlicher war als jeder andere, den sie erlebt hatte, antwortete: »Nein.«

EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    Oh, wie der Fußboden bebte, als die Missus im Schweinsgalopp durch den Salon eilte. »Marguerite!« July wäre fast zu Boden gedrückt worden, so schnell flog die Missus auf sie zu. »Marguerite, wir müssen rasch Byron ausschicken!« Das war alles, was sie herausbrachte, bevor ihr keuchender Atem ihre Worte erstickte. July verdrehte die Augen und wartete, bis der Anfall sich legte. Als die Missus endlich wieder zu Atem kam, fuhr sie fort: »Wir müssen Byron oder Elias zum Zuckerrohrfeld von Virgo schicken.«
    Als July ruhig an ihren Zähnen sog – weil um eine so lächerliche Bitte so viel Aufhebens gemacht wurde –, heftete die Missus ihre blassen Augen auf sie und sagte: »Nein, du verstehst nicht. Ein abstoßender kleiner Mann, der heute Morgen mit Robert auf die Felder hinausgeritten ist, hat mir eben erzählt, dass er sich so sonderbar aufführt. Als ich ihn gefragt habe, ob Robert unwohl ist, hat der Mann nur gesagt: ›So könnte man es nennen.‹ Dann hat er vor meinen Augen mit einem Hölzchen in den Zähnen gestochert. Als ich mich erkundigt habe, weshalb mein Mann nicht mit ihm zurückgekehrt ist, sagte er, Robert hätte sich geweigert, das Zuckerrohrfeld zu verlassen. Was in aller Welt könnte er damit meinen, Marguerite?«
    July hastete zu den Stallungen, um Byron zu befehlen, er solle das Pony vor den Wagen spannen. Sie würde selbst zum Zuckerrohrfeld fahren. Sie würden keinen dummen Hausburschen ausschicken, dem höchstens in den Sinn kam, dem Massa die Schuhe zu putzen, wenn er ihn sterbenselend oder blutend vorfand. Falls Robert Goodwin einen Sonnenstich erlitten hatte,
würde er nur wollen, dass sie ihn unterfasste, um ihn zu pflegen und ihm die Stirn zu kühlen. Falls seine Knochen zerschmettert waren, durfte niemand anders ihn hochheben, da nur sie mit der nötigen Zärtlichkeit Fürsorge leisten konnte. Falls ihn eine Schlange gebissen hatte, wer anders als sie könnte das Gift aussaugen?
    Aber die Missus rannte July nach und kreischte: »Ich muss auch mitkommen.« July konnte die närrische Frau nicht daran hindern, ihre modischen Röcke zusammenzuraffen, ihre Haube festzubinden und an ihrem Sonnenschirm herumzunesteln, bevor sie ihren Arsch auf das Wägelchen quetschte.
    Mit Absicht jagte July so unbekümmert auf den Steinpfaden dahin, dass die Missus wie ein Lederball umhergeschleudert wurde. Während der Fahrt flehte sie July immer wieder an: »Müssen wir so schnell fahren?« Erst als sie sich dem

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