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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Ohren klang es behexend. July hatte nur noch den Wunsch, die weiße Frau von ihrer Tür zu weisen. Daher musterte sie die Missus bedächtig und sagte: »Muss mich um mein Wurm kümmern«, ehe sie hinzusetzte: »Emily, mein kleines Mädchen, muss gestillt werden.«
    Denn der Missus zufolge hatte July gar kein Kind. Der Missus zufolge hatte sie July niemals, niemals, niemals mit einem Kind gesehen. Auch den Karren, der die Hebamme aus dem Dorf gebracht hatte, hatte sie nie zu Gesicht bekommen. Keine eiligen Füße waren je über die Veranda, die Treppe hinab und in den Keller gerannt. Caroline Goodwin hatte ihren Gatten nicht stundenlang im Garten auf und ab gehen und nervös an seinen Fingernägeln kauen sehen. Noch hatte sie das Wimmern gehört, das die Luft durchdrang, oder den Seufzer gesegneter Erleichterung, der sich der Brust ihres Mannes entrang. Nie hatte sie im Haus ein Baby schreien oder quengeln hören. Kein Gurren war je von unten durch die Dielenritzen heraufgedrungen.
Ihrer Erinnerung nach hatte die Missus nicht einmal gehört, dass ein Kind je erwähnt worden wäre. Ihr Mann hatte den Namen des Kindes nie am Esstisch genannt und auch nicht darum gebeten, dass es ihm nach beendeter Mahlzeit heraufgebracht wurde. Nie hatte sie Robert angetroffen, wie er das Kind auf dem Knie schaukelte, wenn er auf der Veranda saß. Noch bei seinen Sachen ein weißes Taufkleid oder eine Holzpuppe mit einem lieblichen Gesicht gefunden. Soweit die Missus sich erinnern konnte, hatte niemand in der Stadt je von der Schande geflüstert, dass sich Caroline Goodwins Mann eine Negerin mit einem Bankert hielt … und noch dazu im selben Haus, im selben Haus! Niemand verbreitete, wenn die Missus sich näherte, den Tratsch hinter vorgehaltener Hand. Allein die Vorstellung! Nein, da war kein Kind.
    Als die Missus mit bebender Lippe erwiderte: »Du kannst dein Baby mitbringen, Marguerite«, war es July, die im Mondschein erblasste, da sie sich wieder einmal gezwungen sah, den Wünschen dieser Frau zu entsprechen.
    Als July den Salon betrat, begriff sie sofort, was ihre Missus dazu bewogen hatte, ihre Selbsttäuschung aufzugeben und Julys Gesellschaft zu suchen. Durch das dünne Glas ihres Fensters schlugen ihnen vom Negerdorf wilde Rufe, Schreie, Schläge und Jammerlaute entgegen. Der Tumult erfüllte das ganze Zimmer. Die Anrichte klirrte und klapperte, die Kerzenflammen zischten, und das Ruhebett, auf das July das Baby auf Geheiß ihrer Missus gelegt hatte, schien zu beben. Nachdem sie sich auf den Stuhl am Fenster gesetzt hatte, musste sie sich das unentwegte Geschnatter ihrer Missus anhören, die im Zimmer umhersprang.
    »Die Neger haben ihn zu diesem Vorgehen gezwungen – ich meine, ist ihm denn eine andere Möglichkeit geblieben? … Niemand tut mehr für das Wohlergehen der Neger als er. Er kümmert sich viel zu sehr um sie …«

    Plötzlich, als würde gleich die Sonne aufgehen, erhellte eine trübe rosige Glut den Horizont und lenkte Julys Aufmerksamkeit von der Verärgerung ihrer Missus ab. So beißend wurde der Brandgeruch, dass er July in die Nase stach, und eine düstere Rauchwolke verdunkelte das Zimmer.
    »Aber Nigger lassen ja nicht mit sich reden. Hätten die Abolitionisten in England je unter Negern gelebt, sie hätten gewusst, dass es eine große Dummheit war, sie freizulassen …«
    Eine Gewehrsalve krachte, und aus den Baumwipfeln stob ein schwarzer Fleck erschrockener Vögel auf. Waren es die Vögel, die so schrien, als sie am Himmel kreisten?
    »Sein Vater hat unrecht. Neger werden sich nie zivilisieren lassen, die werden nie tun, was man ihnen sagt.«
    In der Ferne flackerten Flammen so deutlich wie die Kerze neben July.
    »Aber jetzt ist es zu spät. Sie sind frei. Frei, nicht zu arbeiten. Diese Nigger werden nicht eher ruhen, als bis der letzte Pflanzer im Armenhaus sitzt …«
    Und vom Auf-und-ab-Gehen der Missus begann der Boden unter Julys Füßen zu vibrieren wie vom leisen Hufgetrappel galoppierender Pferde.
    July wusste, dass die Neger jetzt die Feldwege entlanghasteten. Denn im Geiste sah sie sich in ihrer Mitte. Alles war ein Rennen, Retten, Flüchten. Auf die Felder, in die Bäume. Sie ergriffen ihre Siebensachen, traten nach den Hühnern, kämpften mit den Ziegen. Standen da und schlugen mit Stöcken und Macheten um sich. Stießen Verwünschungen gegen die weißen Männer aus, die es wagten, ihre Häuser zu betreten. Schrien nach ihren verloren gegangenen Kindern. »Wo seid ihr? Wo seid ihr?«

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