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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Negerdorf näherten, zog July die Zügel an, um das Tempo zu drosseln.
    July erinnerte sich, dass sie an dieser Stelle des Feldwegs Miss Peggys Wohnhaus hätte sehen müssen. Aber die mit Brettern vernagelte Hütte mit den Flaschenkürbissen, die an einer Schnur über der Tür gehangen hatten, war nicht mehr. Stattdessen stand nur noch der verkrümmte Bogen des Türrahmens da, und vor einem wirren Haufen zersplitterten Holzes lag unter einer Wolke schwarzer Fliegen ein totes Schwein. Von Miss Fannys Hütte – aus der July vor gar nicht so langer Zeit Robert Goodwin nachgesetzt war – standen zwar noch die Steinwände, doch das Stroh auf dem Dach war verschwunden. Vor der offenen Tür lag ein zerbrochener, umgedrehter Stuhl, daneben ein fast flach gedrückter gusseiserner Topf.
    Als der Wagen weiterrollte, sah July, dass das Dorf völlig zerstört war. Der geschwärzte Erdboden war über und über mit zertrümmerten Tischen und Schemeln, Matratzen, Kochtöpfen, zerbrochenen Tassen und Tellern, herabgerissenen Ästen, zerstampftem und verfaultem Obst übersät. Hier und da stiegen Rauchfahnen auf und setzten einen widerwärtigen Brandgeruch
frei. Viele Hütten, die sich noch an der Stelle befanden, wo sie nach Julys Kenntnis schon immer gestanden hatten, waren hoffnungslos verwüstet: Wände fehlten, Fenster, Dächer. Und bis auf einen lahmen braunen Hund, der winselnd seine unbrauchbaren, blutigen schwarzen Beine hinter sich herzog, und ein paar Hühner, die achtlos nach Körnern pickten, war niemand zu sehen.
    Wo waren die Frauen, die immer vor ihren Häusern gekocht oder in einem Mörser unverdrossen ihre Maiskörner zerstoßen hatten?Wo waren die Kinder, die die Ziegen gejagt hatten? Wo die Männer? Wieso saßen im Schatten keine müdäugigen, pfeiferauchenden Alten? Immer, wenn das Wägelchen des Massas vorbeigerollt war, hatten sich doch erwartungsvolle Gesichter gezeigt. Wo waren sie, die Wichtigtuer, begierig auf einen Plausch über die Kleider, die die Missus heute trug? Als July und ihre Missus weiterfuhren, an der sonderbaren Stille der verlassenen Mühle vorbei, begann das Gesicht der Missus vor lauter Sorgenfalten zu schrumpfen. Denn es merkte schließlich sogar die Missus, dass etwas nicht stimmte, und fragte: »Aber … aber … aber wo sind denn die ganzen Neger?«
    Als das Wägelchen den Rand des Zuckerrohrfeldes erreichte, richtete die Missus sich plötzlich auf und rief: »Schau mal, Marguerite, da ist ein Neger. Geh und frag ihn nach dem Verbleib seines Herrn.« July lenkte das Wägelchen näher heran.
    Sie sah aus wie ein Neger, diese Gestalt, die da so klein vor einer düsteren, stacheligen Wand aus verdorrtem gelbem Zuckerrohr stand. Zerlumpt, verdreckt, schwarz. Der Oberkörper des Mannes war unbekleidet, und er hielt eine Machete umklammert, hoch über die Schulter gehoben. Doch erst als er sie schwang und die Zuckerrohrstängel mitten entzweihieb, erkannte July, dass sie keinen Neger anstarrte – der hätte das Zuckerrohr geschickt so weit unten wie möglich abgehauen und es längst beiseitegeworfen –, sondern den Körper Robert Goodwins.

    Laut ächzend begann er, seitlich auf das Zuckerrohr einzuschlagen, als würde er Büffelgras abmähen, und fluchte vor Anstrengung bei jedem Hieb. July sprang vom Wagen und überhörte die Missus, die um eine helfende Hand bat. Und als Robert neuerlich den Arm hob, um die Machete unbarmherzig niedersausen zu lassen, hielt sie ihn fest. Er drehte sich um und sah sie an. Heftig schnaubend wie ein überlastetes Tier, öffnete er den Mund und schnappte nach Luft. Seine Augen, anfangs wild vor Kummer, füllten sich bald mit Tücke. Bis sie July mit solchem Hass anstarrten, dass sie zurückzuckte.
    »Was tust du da?«, fragte July mit einer Stimme, die stärker zitterte, als sie es je für möglich gehalten hätte.
    Er befreite sich aus ihrem Griff. »Rühr mich nicht an. Geh weg«, sagte er. Dann schien er sich zu beruhigen. Er seufzte, wischte sich mit dem Arm über die Stirn und sagte: »Die Neger sind alle fort.« Seine blauen Augen waren gerötet. »Alle haben ihre Sachen mitgenommen und sind fort. Auf Amity ist keiner mehr. Nicht einer. Es ist niemand mehr da, der das Zuckerrohr erntet. Oder das Mühlrad dreht. Niemand bei den Kupferkesseln im Sudhaus. Niemand füllt die Fässer ab, niemand beliefert den Hafen. Sie haben mich alle verlassen. Da … da habe ich beschlossen, das Zuckerrohr selbst einzubringen.«
    »Du kannst doch gar kein Zuckerrohr

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