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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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»Klub«
(in irgendeiner Hintergasse der Stadt) zu kommen, zu einem Abend mit »Quadrillen und viel Heiterkeit«. Godfrey hatte den Massa sogar gefragt, ob er nicht bemerkt habe, dass an Tagen, an denen sein Pferd besonders ruhebedürftig zu sein schien, seine feine Damastweste und sein Leinenjackett oft nicht aufzufinden waren, später jedoch wieder auftauchten und dringend gewaschen werden mussten. Doch der Massa hörte nicht auf Godfreys aufklärende Worte, sondern verdrehte nur die Augen, so absurd kamen sie ihm vor. Denn John Howarth war ganz und gar davon überzeugt, dass sein getreuer Reitknecht Nimrod – mit seinen O-Beinen, seinen Schielaugen und seinem blöden zahnlosen Grinsen – viel zu dumm war, um derart hinterhältige Pläne auszuhecken. Und nichts von dem, was Godfrey sagte, brachte den Massa dazu, seine Ansicht zu ändern.
    Godfrey war loyal, auch wenn er, ja, stimmt, in letzter Zeit damit begonnen hatte, die Missus ein wenig zu betrügen, indem er ihr vormachte, die Lebensmittel seien teurer, als sie waren. Aber was spielte das schon für eine Rolle? Er war noch immer Sklave, Nimrod dagegen so frei, dass er ihm ins Gesicht furzen konnte.
    Und doch suchte jeder dieser beiden sich bekriegenden Männer die Gesellschaft des anderen, denn sie glaubten, wie Brüder zu sein. Da nur wenige auf Amity eine Vorstellung davon hatten, wie Brüder sich zueinander verhielten, hatte sich in der Küche die Meinung herausgebildet, Brüder zu sein bedeute, dass zwei Männer ständig in blutiger Fehde lagen.
    Diesmal jedoch gab Godfrey Patience und July ein Zeichen, sich wieder hinzusetzen, denn heute würde es keine Schläge und keine Verwünschungen geben. Dann starrte er Nimrod an und lächelte. In dem Schweigen, das dem seltsamen Waffenstillstand folgte, hörte man die Stimme der Missus, die nach Marguerite rief. Als Nimrod das heisere, aber klagende Wimmern vernahm, runzelte er die Stirn und fragte: »Was, eure Missus is’ noch da?«

    »Warum nicht?«, antwortete Godfrey.
    »Der Massa is’ zur Miliz gegangen, und die Missus is’ noch hier? Hier is’ se nich’ sicher«, sagte Nimrod.
    »Ach komm, Ärger wie den hat’s auch früher schon gegeben«, sagte Godfrey.
    »Nein, Mr Godfrey, so ’n Ärger hat’s noch nie gegeben.«
    Godfrey seufzte. »Was für ’n Getue.«
    »Mr Godfrey, ich will Ihnen mal was sagen – schon seit vielen Tagen hab ich in der Stadt keine Weißen mehr gesehen, keinen einzigen.«
    »Was de nich’ sagst.«
    »Ich spreche wahr. Einige sagen, alle sin’ se weg.«
    »Weg?«, sagte Godfrey. »Wo sind se denn hin?«
    »Einige sagen, weggesegelt, als der Ärger angefangen hat. Haben ihre Sachen gepackt und die Insel verlassen, weil se Angst haben vor den Negern, die um sie rum leben.« Godfrey schnalzte mit der Zunge, während Nimrod ihm ins Gesicht sah, als sei er ein guter Freund.
    »Is’ wahr, Mr Godfrey. Die Insel steht in Flammen.« Godfrey, der Nimrods Besorgnis bemerkte, lehnte sich zurück und gähnte.
    »Keine Angst?«, fragte Nimrod.
    »Wovor soll ich Angst haben?«
    »Dass die Neger, die für ihre Freiheit kämpfen, mit Gewehren herkommen und wollen, dass Sie sich ihnen anschließen. Die sagen nicht: ›Ach, bitte, bitte‹, und sind süß und sanft. ›Ach bitte, komm, hilf uns, alles kurz und klein zu schlagen und niederzubrennen, bis wir alle frei sind.‹ Die sagen: ›Entweder machste mit, oder wir brennen das Haus nieder, entweder machste mit, oder wir bringen deine Missus um.‹«
    Godfrey starrte Nimrod schweigend an und wägte seine Worte ohne Emotion. »Wenn se die Missus holen wollen, können se se ham«, sagte er.
    July japste nach Luft. »Mr Godfrey, sagen Se doch so was nich’!« Sie war über sich selbst erstaunt. Denn die Vorstellung,
dass ihre Missus tatsächlich von einem Pöbel schwarzer Männer ergriffen wurde, versetzte July plötzlich in Unruhe. Auf einmal sah sie Caroline Mortimer vor sich: schneller, keuchender Atem, die runden Wangen rot, verquollen und nass von Tränen, die blauen Augen erbarmungswürdig geschwollen, die Arme ausgestreckt, die dicken Finger abgespreizt wie bei einem Baby, das getröstet werden möchte. Ihre blonden Locken zitterten, und ihre ängstliche Stimme quiekte: »Marguerite, Marguerite, hilf mir, bitte.« Bei der Vorstellung, dass ihre Missus vergewaltigt werden könnte, wurde es July vor Sorge ganz schwer ums Herz. Denn wenn irgendjemand ihre Missus in einen Zuckerkessel stieß, bis nur noch ihr Unterrock auf dem Sud

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