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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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zu July und schlang die Arme um ihre Taille. Sie erstickte sie fast mit ihrer Umarmung, sodass July ebenso wenig Luft bekam wie ihre verängstigte Missus.
    »Loslassen«, sagte July. Das durchgeschwitzte Seidenkleid ihrer Missus, ihr scharfer, stechender Geruch, die heiße, feuchte Haut ihrer dicken Arme – all das umhüllte July mit süßlichklebriger Weichheit. July machte Anstalten, sich aus der erdrückenden Umklammerung zu befreien, doch ihre Missus hielt sie nur umso fester umschlungen. Und July bereute, dass sie sie in solche Angst versetzt hatte. Denn Molly versuchte, Nimrod schöne Augen zu machen, während July hier festsaß wie ein Falter auf der Marmelade.
    »Missus, loslassen, ich geh nachsehen, wer dieser Nigger is’«, sagte sie. Aber ihre Missus drückte sie nur noch fester. »Keine Sorge, Missus, ich schließ die Tür ab.« Caroline stieß ein leises Wimmern aus; ob es Zustimmung war oder Protest, konnte July nicht sagen.
    »Nur bis der Nigger wieder weg ist, Missus«, sagte sie sanft. »Dann komm ich zurück und lass Euch wieder raus.«
    Selbst im trüben Mondlicht würde Nimrod große Lust verspüren, sie anzusehen, das wusste July. Es spielte keine Rolle, dass sie nur ihre zerlumpte graue Arbeitskleidung trug, die noch nach der Kuh roch, die sie für den warmen Zimt-Milch-Punsch ihrer Missus gemolken hatte. Oder dass ihr Haar, das steif war vor Schmutz, durch mehrere Löcher in dem schäbigen Stoff des hässlichen grünen Kopftuchs hervorsah, das sie trug. Als sie mit wiegenden Hüften auf Nimrod zuging, wusste sie, dass er den Kopf neigen würde, um eine ganz gewöhnliche Begrüßung zu heucheln – wie er sie Molly oder Patience zukommen ließ –, dass er jedoch den Atem anhalten
würde, um den Gruß einzubehalten, bis er ihn endlich heraushusten musste: »Ah, Miss July«, husthust, »zum Gruße«, so sehr bewunderte er sie.
    Nun war Nimrod nicht groß – nicht größer als July –, denn er hatte O-Beine, die nur darauf zu warten schienen, dass das Pferd, von dem er gerade abgestiegen war, zurückkommen und wieder unter seinen Hintern schlüpfen würde. Und doch hatte er einen stolzen Gang, denn Nimrod war ein freier Mann. Obwohl er früher einmal Reitknecht auf Amity gewesen war, hatte er vor vielen Jahren seine Freiheit erkauft und dafür zweihundert Pfund in Münzen und in Scheinen auf den Tisch gezählt, sodass dem Massa der Mund offen stehen geblieben war.
    July fand, dass Nimrods schwarze Haut wie Koks aussah und seine Nase zu flach und zu breit war. Aber er war kein Sklave. Inzwischen konnte er beanspruchen, dass weiße Leute ihm ins Auge sahen. Auch wenn eines dieser Augen schielte, sodass man vor lauter Verwirrung nicht recht wusste, welches Auge man fixieren sollte, wenn er sprach. Dennoch, als freiem Mann begegnete man ihm mit Respekt.
    Die Haare auf seinem Kopf waren vorne üppig, hinten aber gab es eine münzgroße kahle Stelle, die in der Sonne funkelte. Und die Narbe auf seiner Lippe, die ihm nach einer Bestrafung durch Tam Dewar geblieben war, hatte, solange er noch Hab und Gut eines weißen Mannes gewesen war, auf July wie eine Verunstaltung gewirkt. Jetzt aber, da Nimrod ein Mann mit eigenem Namen war – keinem aufgezwungenen, sondern einem selbst gewählten –, verlieh ihm das gezackte Mal ein schneidiges Aussehen. Nimrod Freeman oder Mr Freeman, so lautete der Name, mit dem alle Weißen ihn anzureden hatten, oder er würde ihnen nicht geben, was sie verlangten. Denn Nimrod war frei wie der Wind, wie die Sonne oder der reißende Strom, wie eine aufsteigende Portugiesische Galeere oder ein Käfer unter einem Stein, wie eine Spinne in ihrem Netz oder eine Krabbe, die seitlich über den Strand läuft. Und als
July auf ihn zukam, sagte Nimrod tatsächlich: »Miss July«, hust, hust, »zum Gruße.«
    »’n Abend, Mr Freeman.«
    »Miss July, du weißt doch, sollst mich Mr Nimrod nennen«, sagte er und erhob sich von seinem Stuhl. Dabei neigte er den Kopf vor July, als müsse er sich kleiner machen, um diese Worte aussprechen zu können. Er zwinkerte ihr nicht zu, denn sämtliche Sklaven von Amity waren zugegen, doch als er ihr einen Platz anbot, ließ er zwei Mal seine Augenbrauen springen, wie um anzudeuten, dass zwischen ihnen eine gewisse Kameradschaft bestand. Dann räusperte er sich, hust, hust, und setzte sich wieder, um mit der Geschichte fortzufahren, die er gerade allen Anwesenden erzählte; da waren Godfrey und Hannah, die an ihren Pfeifen saugten; Molly, die

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