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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Reise in die Stadt nicht begleiten. Warum nicht? Weil Godfrey es so bestimmte. Und, ach ja, ein Sachverhalt, den die Missus nicht vergessen dürfe, der Name ihres Hausmädchens sei nicht Marguerite – ihr Name sei July. Drei Mal zwang Godfrey sie, den Namen auszusprechen. Als July den Befehl zum ersten Mal hörte, musste sie kichern; als Godfrey jedoch darauf beharrte, dass die Missus den Namen July ins Gesicht sagte, lauter und dann noch lauter, biss sich July auf die Lippen und starrte auf ihre Füße.
    Und den Einspänner mit dem Fuchs, den Caroline sich als Kutsche ausgebeten hatte, schickte Godfrey zurück. Er entschied, dass der Maultierkarren besser geeignet sei, und beauftragte Byron, das klapprige Fuhrwerk zu bringen. Als Godfrey der Missus befahl, sich hinten auf den Karren zu legen, fragte sie ihn: »Muss das sein?« Er antwortete nicht, aber der bösartige
Blick, den er auf sie richtete, brachte sie so sicher zum Schweigen, als hätte er ihr die Hand auf den Mund gelegt.
    »Bring ’ne Decke, dass wir die Missus zudecken können«, forderte Godfrey July auf. Nein, nicht die aus ihrem Ankleidezimmer, sondern das alte Ding, das in der Küche benutzt werde… nun, dann solle sie den Hund eben verjagen. Die Missus und ihre Siebensachen lagen schon unter der stinkenden Decke verborgen auf dem Karren, als sie sich mit gedämpften Quieksern, Niesern und Schluchzern bei Godfrey darüber beschwerte, wie schrecklich unbequem sie es habe. Er aber bestieg den Karren mit jugendlichem Schwung und fuhr die wimmernde weiße Frau an, mucksmäuschenstill zu sein und sich nicht vom Fleck zu rühren.
    »Hüa«, befahl Godfrey dem Maultier. Doch das schläfrige Tier gehorchte erst, als es die knallende Peitsche auf dem Rücken zu spüren bekam. »Hüa«, rief Godfrey, und das Maultier verfiel in einen langsamen Trott und ließ Amity hinter sich.
    Und hätte July damals gewusst, dass sie Mr Godfrey, der mit kerzengeradem Rücken auf dem rumpelnden Karren saß und das Gefährt in den rosaroten Morgendunst lenkte, niemals wiedersehen würde, vielleicht – ach, vielleicht, geneigter Leser – hätte sie die Hand gehoben, um ihm zum Abschied zuzuwinken.

ZWÖLFTES KAPITEL
    Oh, welche Stille sich über das Haus legte. Nun, da weder die Missus noch der Massa da waren, streckten sich die hölzernen Dielenbretter und gähnten, denn kein schwerer Fuß trampelte über sie hinweg. Die Stühle stießen einen Seufzer aus, denn kein dicker Arsch beschwerte sie. Die Staubteilchen, die in den Sonnenstrahlen umherwirbelten, sanken sanft hernieder und legten sich zur Ruhe. Und die Vorhänge an den Fenstern, die nicht länger vorteilhaft auszusehen brauchten, hingen matt herab.
    July glitt auf ihrer schmutzigen Schürze über den polierten Saalfußboden. So weit war sie mit einem Rutsch noch nie gekommen. Sie dachte schon daran, Molly zu rufen, damit sie Zeugin ihrer Waghalsigkeit würde – hielt dann aber inne. Denn jetzt, da Godfrey fort war und sich anderen Unfug als den ihren besah, brauchte sie sich nur von der Küche und von dem Blick aus Mollys gutem Auge fernzuhalten, um, zumindest vorübergehend, frei zu sein.
    Also. Als July im Speisesaal auf den Deckel der silbernen Servierplatte sah, kam ihr ihre Nase so groß wie ein Kochschinken vor, ihre aufgeworfenen Lippen so dick wie Miss Hannahs Schokorollen. Und in dem großen Servierlöffel wurde sie, wurde die ganze Welt verkehrt herum gespiegelt, und auf der anderen Seite des Löffels wieder richtig herum. Auf dem Kopf, auf den Füßen, auf dem Kopf, auf den Füßen. Und die Gläser auf der Anrichte klirrten melodisch, wenn sie mit dem metallenen Löffel daran klopfte. Die großen Gläser machten bong, und die kleinen sangen ting. Bong, ting, ting, bong.

    Die seltsamen Bilder an der Wand, die der Massa Karten nannte, sahen genauso aus wie die Flecken, mit denen die weiße Bluse der Missus übersät war, wenn sie ihren Tee verschüttet hatte. Eigentlich waren es gar keine Bilder, denn es gab darin keine zürnenden Augen, deren Blicke ihr überallhin folgten. Ganz anders als das Porträt der toten Missus im Salon; die beobachtete July die ganze Zeit und machte ts-ts, als July die Stuhlkissen der Missus zu Boden warf und von einem auf das andere sprang, um zu fühlen, wie die weiche Seide zwischen ihren Zehen hervorquoll. July musste den Saal verlassen, so scharf blickte die tote Missus sie an.
    Und der Spiegel im Schlafzimmer japste nach Luft, als Julys dunkles Gesicht darin auftauchte.

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