Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
Vom Netzwerk:
lautstark einen Rosenapfel vertilgte; die Waschweiber Florence und Lucy, die in einiger Entfernung angestrengt lauschten; Byron natürlich, der fast ganz still dasaß und etwas Schorf an seinem Knie untersuchte; selbst Patience war gekommen.
    »Ich erzähl also weiter«, sagte Nimrod, und July spürte, wie er sie mit einem tiefgründigen Blick ansah … aber Molly spürte das Gleiche. »Drei weiße Männer kommen und suchen nach dem Neger, den se Colonel nennen – das is’ der Anführer der Bande, ihr wisst schon, die das Bagasselager auf der Plantage Providence abgebrannt hat –, die Flammen haben gezüngelt, bis nur noch die verkohlten schartigen Steine übrig geblieben sind, die in der Bresche, die das Feuer geschlagen hat, aussahen wie ’n Grinsen von schwarzen Zähnen. Dann kommen se in die Tischlerwerkstatt – gucken hier, gucken da. Aber die fünf Neger, die sich ja vor ihnen verstecken, die sehen se nich’.«
    »Fünf, sagst du?«, unterbrach Godfrey.
    »Fünf«, antwortete Nimrod.
    »Und wo hamse sich versteckt?«
    »In ’nem Schrank«, sagte Nimrod.

    »Fünf Mann in ’nem Schrank. Das muss aber ’n großer Schrank sein«, sagte Godfrey.
    Hannah schnalzte mit der Zunge und sagte scharf: »Still, Mr Godfrey«, bevor sie Nimrod zunickte, er solle fortfahren.
    »Plötzlich sind se alle aus ihrem Unterschlupf gesprungen und über die weißen Männer hergefallen. Haben ihnen die Buschmesser abgenommen. Ihnen die Hände gefesselt. Die Augen verbunden und sie dann zum Sudhaus geführt. Und da …« Nimrod sah, so gut seine Augen es ihm erlaubten, von einem zum anderen und sagte: »… da hamse die weißen Männer in den siedenden Zucker geworfen, als wär’n se drei Stück Ätzkalk.«
    July japste nach Luft. Nimrod beugte sich näher zu ihr, und wie bei einer Ziege, die Gras kaut, wippte das kleine Büschel Barthaar auf seinem Kinn, als er laut flüsterte: »Auf dem Sud schwammen nur noch ihre Hüte.«
    July wollte an den hüpfenden Haarsträhnen auf seinem Kinn zupfen, um ihn zu bitten, ihr die Geschichte von Beginn an zu erzählen, denn der Anfang war ihr entgangen, während alle anderen schweigend und von wohligen Schauern überrieselt dasaßen.
    Das heißt, alle außer Godfrey, der laut schnaubte und dann sagte: »Und wo war der Vorarbeiter, als sie ihm drei Männer in seinen guten Zuckerkessel geworfen haben?«
    Nimrod lehnte sich zurück, verschränkte die Arme, hob die Augen zum Himmel und antwortete mit einem schweren Seufzer: »Betrunken.«
    »Der Vorarbeiter war betrunken, meinste wirklich?«, fragte Godfrey. Alle, selbst Patience, schnalzten mit der Zunge, denn Godfrey verdarb ihnen diese herrliche Lügengeschichte.
    »Mr Godfrey, der Vorarbeiter war betrunken von all dem Rum, den er aus den Vorräten hatte mitgehen lassen«, antwortete Nimrod. Und alle schnappten nach Luft außer …
    »Und du willst uns wirklich sagen, dass all das vor sich geht, während wir hier sitzen?«, fragte Godfrey.

    »Gott möge mein Zeuge sein. Der Herr tue mir dies und das, wenn das, was ich sag, nich’ wahr is’.« Nimrod hob die Arme, um sich von Gott für einen Lügner erklären zu lassen, indem er ihn vor der versammelten Menge mit einem Feuerkeil strafe. Als kein Blitz einschlug, fuhr er fort: »Hört her, die ganze Insel steht in Flammen. Überall wird gekämpft, und die Weißen, se rennen um ihr Leben. Es heißt, die Miliz weiß nich’ mehr, was noch tun, sodass sie den Maroons für ein Paar Negerohren gutes Geld zahlen will.« Nimrod beugte sich auf seinem Sitz vor und griff sich Byron. »Und ’s macht ihnen nichts, wenn zwischen den Ohren kein Kopf nich’ is’. Wer zahlt mir ’nen Penny für die hier?«, fragte er und zog den Jungen an den Ohrläppchen. Und ach, wie da alle aufschrien … außer Godfrey.
    Als Nimrod sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, die Arme über der Brust faltete und grinste, sah July, dass er, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, noch mehr Zähne verloren hatte, sodass sein Lächeln genauso verstümmelt und verzweifelt aussah wie der Haarkamm ihrer Missus, aus dem die Zinken herausgebrochen waren.Aber wenigstens saßen diese hässlichen Lippen im Gesicht eines freien Mannes.
    »Und jetzt sin’ wir also alle frei?«, fragte Molly.
    »Je nun«, meinte Nimrod nachdenklich.
    »Sind wir’s nun, oder sind wir’s nich’, Mr Nimrod?«, fragte Godfrey mit hörbarem Verdruss in der Stimme.
    Bevor er antwortete, hob Nimrod behutsam eine seiner Hinterbacken vom Stuhl und ließ

Weitere Kostenlose Bücher