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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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ganz blind davon wurde.
    Und am Ende des Tages hockte sich Kitty in den Fluss – das Wasser umspülte ihre Schultern, ihren Nacken – und schrubbte sich, um den Dreck von ihrer Haut zu entfernen, mit den Blättern der Schnabel-Segge ab. Aber der Dung, geneigter Leser, blieb an ihrer Haut haften, sodass der Fluss über sie hinwegglitt wie über das Fell einer Wasserratte. Und das Gleiche galt für die wenigen Kleidungsstücke, die sie besaß; kein noch so energisches Walken im Fluss konnte sie von dem Gestank befreien. Auf dem Sonntagsmarkt trat niemand nahe genug an Kitty heran, um ihre süßen Maniokwurzeln oder ihre Limetten zu begutachten, außer den Schmeißfliegen. Denn die umhüllten sie wie ein Wolkendunst – und kitzelten sie, wenn sie ihre Nase, ihren Mund, die Feuchtigkeit in ihren Augen und ihre Ohren erkundeten. Wenn gedüngt wurde, fühlte sich Kitty wie ein Stück wandelnde Scheiße.
    So auch an diesem Tag. Kitty und ihre Arbeitskolonne kehrten von dem Zuckerrohrfeld namens Virgo ins Dorf zurück und liefen langsam wie lahme Maultiere in einer unordentlichen Reihe hintereinander – denn Kitty hatte die zwei Meilen lange Strecke vom Viehpferch zum Feld an diesem Tag bereits
sechs Mal zurückgelegt.Wie üblich schwirrten die Fliegen um sie herum, obwohl sie die Quälgeister mit fuchtelnden Armbewegungen zu vertreiben suchte. Die Sonne, die ihr auf den Rücken brannte, hatte sie so eingeschläfert, dass sie ihre Hand achtlos auf die Schulter von Peggy stützte, der Frau, die neben ihr ging. »Miss Kitty, bin für heute fertig mit meiner Last. Kann dich nich’ auch noch tragen«, sagte ihre Gefährtin viele Male, ehe Kitty ihr Flehen überhaupt hörte.
    Auf dem Weg, der den Begrenzungssteinen folgte – kurz bevor Kitty ins Dorf kam –, drang eine Brise Geschwätz an ihr Ohr. Einige Neger aus der zweiten Arbeitskolonne, die im Hof der armseligen Behausungen saßen, riefen Kitty zu, sie hätten gehört, Pitchy-Patchy sei aus der Stadt gekommen. Und dass diese schäbige Mummenschanzfigur – ein Überbleibsel des Weihnachts-Johnkankus – im Mühlenhof sei und herumknurre, um die Blagen zu erschrecken, in der Hoffnung, man werde ihr Mangos zuwerfen.
    Dann kam sie an einer Gruppe von Männern vorbei, die unter dem Strohdach der Vorarbeiterküche kauerten – darunter zwei Küfer, nicht aber der Vorarbeiter selbst. Alle redeten über die gegenwärtige Lage. Die Männer erzählten Kitty, nein, es sei nicht Pitchy-Patchy, der da aus dem hohen Gras gekrochen sei, sondern zwei Personen, die dem kriegerischen Kampf um die Freiheit entronnen seien, der auf der Insel tobte – ein sehr kleiner humpelnder Mann, ganz zerschunden, und ein junges Mädchen, das alle Umstehenden inständig bitte, ihnen zu helfen.Wie Kitty es auffasste, drehte sich der Streit in dieser Ansammlung von Männern darum, ob man die von einem bösen Wind hereingewehten Fremden verjagen oder Mitleid mit ihnen haben solle. Doch die Männer, die sich an dem lautstarken Wortwechsel beteiligten, konnten sich nur auf eines einigen: »Jetzt ham wir den Ärger.«
    Die Feuer vor den Hütten auf dem Weg zu Kittys Heim waren unbeaufsichtigt; denn alle, die dort wohnten, befanden sich im Mühlenhof. Sie waren losgezogen, um mit großen
Augen das gespenstische Schaupiel zu begaffen, das die beiden hereingewehten Fremden boten. Kitty musste drei Schweine verscheuchen, die ihre Schnauzen tief in die herrenlosen Töpfe gesenkt hatten.
    Ezra rief Kitty zu einem Schwätzchen heran und hielt sie lange, lange auf. Er redete nur von Bränden und Blutvergießen. »Aber wir sin’ gute Nigger«, sagte er immer wieder zu Kitty. »Brechen keine Lanze für die Freiheit nich’, wie die uns einreden wollten. Wir streiken nich’, Miss Kitty, wir streiken nich’.«
    Als Kitty endlich in ihrer Hütte ankam, war sie viel zu müde, um sich wegen des Traras, das sie von allen Seiten umwehte, Sorgen zu machen. Sie betete nur darum, sich bald in den Fluss hocken und mit den Blättern der Schnabel-Segge abschrubben zu dürfen.
    Doch da kam Miss Rose zu ihr heraufgeschlurft. Obwohl sie hinkte, konnte Miss Rose noch immer gelenkig nach den Hühnern treten, die ihr den Weg versperrten, und ließ sich schließlich schwer auf den Stein bei Kittys Feuerstelle fallen. Als sie wieder zu Atem gekommen war, flüsterte sie laut: »Miss Kitty, dein Wurm is’ da. Miss July is’ gekommen. Das unheilvolle fremde Mädchen mit dem verletzten Mann über der Schulter, das is’ Miss July,

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