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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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aus dem Mund. Dann sackte er schlaff wie eine Puppe in sich zusammen. Und July hörte zu, wie die Missus ihre Geschichte bekräftigte.
    »Ich habe gesehen, wie er … wie er … auf John zuging, der hier saß …« July sah, wie die Missus den Stuhl zurechtrückte, sich daraufsetzte und mit dem Fuß, der in Pantoffeln steckte, aufgeregt auf den Boden tippte, als sie fortfuhr: »Er hat sich von hinten an meinen Bruder herangeschlichen und ihn erschossen, hier.« Dabei berührte die Missus mehrmals den eigenen Hinterkopf, bis der Aufseher sagte: »Nein. Sie müssen die Geschichte schon richtig erzählen.« Und die Missus entgegnete: »Das ist keine Geschichte, Mr Dewar, das ist die Wahrheit.«

    »Die Wahrheit, Madam«, begann der Aufseher, »ist, dass er sich selbst erschossen hat. Das weiß ich, und das wissen Sie.«
    »Ich erlaube nicht, dass Sie auf diese Weise mit mir sprechen…«, sagte die Missus, als der Aufseher, ohne ihre Worte zu beachten, fortfuhr: »Aber Sie sollen Ihren Schuldigen haben. Sie können Ihre Haut und Ihre Plantage retten, aber nur, wenn Sie die Geschichte so erzählen, wie ich es sage.«
    July hörte, wie die Missus nach Luft schnappte, als der Aufseher beharrte: »Nun hören Sie mal gut zu, Frau. Ihr Bruder ist von vorn erschossen worden. Der Nigger hier hat Ihren Bruder von vorn erschossen. Jeder Mann, der mal eine Pistole in der Hand gehalten hat, kann das an der Wunde erkennen.«
    Und dann hörte sie ihre Missus ruhig sagen: »Natürlich, von vorn. Das meinte ich ja, von vorn.«
    »In den Mund. Der Nigger hat ihn in den Mund geschossen. «
    »Ja. In den Mund, Mr Dewar.«
    Und July hörte den Aufseher sagen: »Und als der Schuldige zu fliehen versuchte, haben Sie ihn erschossen.«
    »Ich?«
    »Ja, Sie. Mit Ihrem albernen kleinen Pistol, das mit dem Perlmuttgriff. Sie, Sie haben ihn erschossen! Ich bin erst gekommen, als Sie den Nigger schon getötet hatten.«
    Und die Missus schnaufte: »Getötet?«
    July war überzeugt, dass Nimrod bald die Füße in den Boden stemmen und sich stolz vor diesen Weißen aufpflanzen würde. Er würde ihnen beiden in die Augen blicken und ihnen – mit einem Husthust – erklären, er habe genug von dieser Fantasiegeschichte gehört. Dann würde er sie in Kenntnis setzen, er sei kein Nigger, mit dem sie nach Belieben verfahren könnten. Nein. Er sei ein freier Mann. Nimrod Freeman. Für sie immer noch Mr Freeman.
    Stattdessen blieb Nimrod in beschämendem Schweigen am selben Fleck stehen, zitterte wie Espenlaub und sah aus wie ein
schielender Tölpel. Als der Aufseher seine Pistole lud und rief: »Lauf zur Tür, Nigger«, stieß Nimrod ein wimmerndes Geheul aus und umklammerte wie eine Memme die Knie des Aufsehers. Der Aufseher, der den klammernden Neger abzuschütteln versuchte, wurde immer wütender und schlug Nimrod mit dem Pistolenknauf fest auf den Schädel. Mit einer klaffenden, blutenden Wunde brach Nimrod auf dem Boden zusammen. Dann setzte der Aufseher ihm die Pistole in den Nacken. Doch bevor er den Finger krümmte, um den Hahn zu lösen und die Kugel abzufeuern, sagte er zur Missus: »Denken Sie daran, Sie haben diesen Nigger erschossen, als er zu fliehen versuchte.«
    In kalter Panik flehte die Missus: »Aber, aber, aber töten Sie ihn nicht.«
    »Warum nicht?«, fragte der Aufseher.
    Und die Missus, die sich umblickte, als schwebe die Antwort irgendwo auf der Insel umher, und sie brauche nur herauszufinden, wo, erwiderte: »Er hat meinen Garten noch nicht fertiggestellt.«
    Zuerst starrte der Aufseher die Missus an, als sei in ihrer Aussage womöglich eine geheime Weisheit verborgen, lachte dann jedoch vollerVerachtung und verdrehte die Augen zum Himmel. Anschließend richtete er seine Pistole wieder auf Nimrod.
    Und ehe Überlegung oder Vernunft sie daran hindern konnten, war July unter dem Bett hervorgeschossen und über den Leichnam des toten Massas hinweg kopfüber auf den Aufseher zugestürmt – hatte sich mit ihrem ganzen Wesen auf ihn gestürzt und ihn mit furchterregender Kraft zu Boden geschleudert. Es gab eine helle Stichflamme und einen lauten Knall, als die Kugel, die für Nimrods Kopf bestimmt war, in die Zimmerdecke einschlug. Die Missus schrie auf, als plötzlich, ausgelöst durch den Pistolenschuss, von hoch oben ein Geröll aus Holz, Schiefer, Steinen und zerfetzten Lebewesen auf sie herabrieselte. Als sie sich vor der Lawine ducken wollte, stolperte sie über den Aufseher und landete schwer auf ihm. Unter ihrem
beträchtlichen

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