Das lange Lied eines Lebens
gefesselten Niggern allein zu sein, schrien: »So hol doch wer den verdammten Doktor. Wo steckt denn der verdammte Doktor?«, als die Gewehrsalve abgefeuert wurde.
Da erst sahen sie Kitty – denn plötzlich kam sie, verwegen wie Nanny Maroon, unter den Beinen der Pferde hervor. Die beiden schreckhaften Milizionäre richteten ihre zitternden Pistolen auf Kittys Rücken, als sie enteilte, aber Kitty war so versessen darauf, zur Mühle zu gelangen, dass sie sich nicht fürchtete.
»Miss Kitty? Die is’ geflogen, oh, geflogen is’ die. Ihre Füße nicht länger auf Gottes Erde; hab gesehen, wie se sich durch die Lüfte geschwungen hat. Gebt mir die Bibel, dass ich die Hand draufleg. Ich sag euch, die is’ geflogen!« So sprach Miss Sarah.
In der Absicht, Anne und Betsy loszubinden, hatte Sarah sich von der Mühle zum Sudhaus geschlichen. Aber dann sah sie Tam Dewar, den Aufseher, in den Mühlenhof reiten. Die Fremden, »das böse Mädchen und der stolze Mann«, wurden dort von dem Treiber festgehalten, der, sobald er sah, dass Tam Dewar sich näherte, davonrannte.
Später schwor der Treiber Mason Jackson, er sei nicht davongerannt. Er habe, so erklärte er, Dewars Pferd erkannt, das einen weißen Fleck auf der Nase hatte, der im Mondlicht leuchtete. Er beobachtete, wie Tam Dewar mit seinem Pferd die beiden Fremden einkreiste und sie gegen die Steinmauer der Mühle drängte. Das Mädchen, das noch immer den zusammengesackten
Mann aufrichtete, kam an den stampfenden Hufen des Pferdes einfach nicht vorbei. Sie war gefangen. Danach, so erklärte der Treiber, habe er nichts mehr gesehen, denn er sei weggegangen.
Miss Nancy aber, die sich in einem nahen Busch versteckt hielt, sagte aus, das Mädchen habe Tam Dewar angebettelt, angebettelt, angebettelt: »Er hat den Massa nich’ getötet, er hat den Massa nich’ getötet!« Immer wieder habe sie das gesagt. Erst flehend, dann weinend, dann schreiend, bald hierhin springend, bald dahin hüpfend, bis sie sich wieder aufs Betteln verlegte.
Benjamin Brown – ein Viehhändler, der die Quälerei von der Mühle aus verfolgte – wusste, dass die Bitten des jungen Mädchens auf diesen Hund von Aufseher keinen größeren Eindruck machen würden als das Fiepen einer Fledermaus. Nachdem Tam Dewar sie eingefangen hatte, stieg er vom Pferd und entriss ihr den Mann mit einer einzigen Handbewegung. Dann hielt der Aufseher den Neger wie einen stinkenden Lumpen in die Höhe und begann ihn so heftig zu schütteln, als habe sich in den Knochen des schwarzen Mannes aller Schmutz der Welt angesammelt. Und er schrie ihn an: »Schau mich nicht an, Nigger. Schau mich nicht an!«
Sarah zufolge wehrte sich der fremde Mann zwar nicht, heftete aber weiterhin den Blick auf Dewar. Das Mädchen dagegen – oh, das bespuckte den Aufseher, kratzte ihn und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. Bis Dewar ihr mit einem einzigen Hammerschlag seiner Faust so fest ins Gesicht schlug, dass sie zu Boden ging. Dann setzte der Aufseher dem Mann die Pistole an den Kopf und … bumm! Sarah sagte, das Gesicht des Negers sei einfach explodiert – sei in der Luft zerborsten und wie blutiger Regen, plitsch-platsch, sachte wieder niedergefallen.
Benjamin musste sich übergeben. Nancy rannte und rannte und rannte.
Der Aufseher warf die schlaffen Überreste des Negers zur Seite, als wäre er ein Stück ausgepresstes Zuckerrohr, das von den Mühlrädern eben zerquetscht wurde. Das Mädchen, blutverschmiert wie ein geschlachtetes Schwein, umschlang Dewars Fußgelenke und flehte ihn an, sie zu verschonen. Er griff sich eine Faustvoll Haare, um sie festzuhalten, solange er seine Pistole lud. »Nein, Massa, nein, Massa, Gnade, Massa, Gnade«, rief sie und wehrte sich heftig. Irgendein aufrührerischer Geist in ihr kämpfte um ihr Leben. Der Aufseher konnte sie kaum bezähmen. »Halt’s Maul, du verdammte Niggerin, halt’s Maul.« Und in dem Moment, als der Aufseher die Hand hob, um sie mit der Pistole zu schlagen, stürzte Kitty auf ihn los.
»Sie saß dem Aufseher im Nacken wie ein Wind!«, sagte Sarah. Allerdings wusste Sarah nicht, weshalb Kitty sich um des jungen Mädchens willen so in Gefahr begab. Sie hielt das Mädchen nämlich für irgendeine hochherrschaftliche Haussklavin, die noch nie gespürt hatte, wie die Sonne ihr den Rücken verbrannte oder die Erde ihre Hände hart und schwielig machte wie einen Schweinefuß. Sie wusste nicht, dass sie die Tochter war, die man Kitty genommen hatte.
Benjamin
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