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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Gewicht stieß er allen Atem aus wie ein kräftiger Blasebalg einen Luftstrom.
    July war darauf gefasst, dass man ohne Verzug mit ihrer Bestrafung beginnen würde. Doch als sie das Durcheinander sah, merkte sie, dass es etwas länger dauern würde, das Gewirr aus Missus und Aufseher aufzulösen, das sie eben verursacht hatte. Daher griff July Nimrod unter die Arme, schleifte ihn zur Tür, öffnete diese und hob den Geschwächten über die Schwelle. Und nachdem sie die Schlafzimmertür hinter sich zugeschlagen hatte, drehte sie listig den Schlüssel im Schloss herum.
    Nimrod war schwer. Oh, wie July sich an jenem Tag damit abmühte, ihn so weit wie möglich vom Herrenhaus wegzubringen. Sie schleifte ihn, sie zerrte ihn, sie zog an ihm, damit er auf die Füße kam. Mit hechelndem Atem flehte sie: »Oh, Mr Nimrod, bitte lauf doch. ’nen Schritt nur, Mr Nimrod, nur ’nen Schritt.« Und ein Mal, vielleicht zwei Mal, setzte der Mann in dem Bemühen, den Weg entlangzustolpern, tatsächlich einen Fuß vor den anderen. Die meiste Zeit umklammerte er schwer wie ein Sack voller Holzscheite ihren Hals. Und doch schleppte July ihn durch den Garten, auf den Pfad und durch eine Wiese mit hohen Gräsern, bis sie den Holzrauch von den Feuerstellen im Negerdorf roch und die lauten Rufe spielender Kinder hörte.
    Bald sah sie zwei Feldnegerinnen vor sich, die in einem Mörser Korn zerstampften. Sie hielten in ihrer Arbeit inne und glotzten sie an. Endlich ließ July Nimrod zu Boden fallen, und eine der Frauen sagte: »Die is’ aus ’m Herrenhaus«, während die andere mit einem misstrauischen Blick über die Schulter rief: »Kommt, schnell, schnell! Kommt schnell!« Gleich darauf bildete sich eine Menschenansammlung, und alle starrten July an – diese hochherrschaftliche Haussklavin, die sie sicherlich hereinlegen wollte, indem sie mit diesem blutig zerschundenen Mann widerrechtlich in ihr Dorf eindrang.

    Dann trat eine alte Frau vor, die so kleinwüchsig war, dass sie, wenn sie aufrecht stand, einem Hund in die Augen blicken konnte, und fragte: »Bist du die Kleine von Miss Kitty?« Als July den Namen ihrer Mama hörte, gaben ihre Beine unter ihr nach. Die Frau kannte also ihre Mama noch, aber ihre Mama war doch von der Missus verkauft worden? July fiel auf die Knie.
    »Ich bin Miss Rose – erkennst du mich?«, fragte die Frau und wandte sich zu der Menge, um ihr mitzuteilen: »Das ist die Kleine von Miss Kitty, Miss July. Ich hab sie mit eigener Hand herausgezogen in die Welt. Miss Kittys Mädchen – Miss Kittys Mädchen is’ heimgekommen.«

VIERZEHNTES KAPITEL
    Welchen Sinn hat es, geneigter Leser, Mühe auf das Bügeln von Unterröcken zu verschwenden? Ein Unterrock ist ein Kleidungsstück, das niemand sieht. Eine kleine Falte im Spitzenbesatz oder in den Bändern wird der Trägerin niemals als Faulheit ausgelegt werden, denn keiner weiß davon außer der Trägerin selbst. Lillian, die Frau meines Sohnes, ist jedoch sehr eigen, was Unterröcke anbelangt.
    Während mein Sohn und ich heute Morgen friedlich beisammensaßen – er ging eifrig die Seiten der Geschichte durch, die du, geneigter Leser, soeben gelesen hast –, regte sich Lillian über die zerknautschten und zerknitterten Unterkleider ihrer drei Töchter auf. Wenn nicht alle Unterröcke in unserem Haushalt geplättet sind, wälzt sich Lillian nachts in ihrem Bett herum und kann nicht schlafen, denn für sie liegt ihre Charakterfestigkeit darin begründet. Für mich jedoch nicht.
    Ich bin überzeugt, geneigter Leser, dass es in deinem Haushalt Pflichten gibt, die du ebenso überflüssig findest: Das Abstauben von Porzellanfiguren auf einem offenen Regal, das Aufschütteln von Kissen, komplizierte Nadelarbeiten an einem Strumpf könnten als Beispiele dienen. Doch bevor du – aus Enttäuschung darüber, dass deine Erzählerin so weit von ihrer Geschichte abschweift – dieses Buch zuklappst, will ich dich zurückgeleiten, damit du den Grund für diese Umwege einer alten Frau erfährst. Denn an diesem Punkt meiner Erzählung, geneigter Leser, müssen wir noch einmal Kitty aufsuchen. Die Zeit ist gekommen, sich wieder in Gesellschaft jener Feldsklavin zu begeben, die die Mama unserer July ist.

    Viele Jahre zuvor hatte Kitty sich von der unermüdlich daherschwatzenden Rose überreden lassen, dass es nicht klug sei, den Zorn des Massas zu riskieren, indem sie jede Nacht den ausgetretenen Pfad nahm, über die niedrige Steinmauer kletterte und sich wie ein Geist vor dem

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