Das lange Lied eines Lebens
schon ganz erwachsen. Und se sagt, Massa is’ tot. Massa John is’ tot!«
Jedermann wusste, dass überschwängliche Worte bei Kitty ebenso selten waren wie Rindfleisch in ihrem gusseisernen Topf; doch als sie hörte, dass ihre Tochter, die sie so viele Jahre lang vermisst hatte, eben aus dem hohen Gras gekrochen war – das Haar verfilzt und voller Disteln, die Haut wundgescheuert, das Kleid zu einem Lumpen zerfetzt und mit Schlamm und Zweigen bedeckt, die Augen wild wie die eines gejagten Tieres, mit einem lahmen Mann, den sie stützen musste, dessen Kopf eingeschlagen war und der in ihrer Umklammerung zitterte, während sie selbst allen, die ihr zu nahe kamen, vorfantasierte,
der Massa sei tot –, da stand sie so lange ohne zu atmen und zu zwinkern da, dass Miss Rose glaubte, sie sei versteinert. Miss Rose schwor – und zwar auf die Bibel –, sollte irgendwer ihre Aussage bezweifeln.
Ezra dagegen behauptete, Kitty sei umgefallen, als hätte ihr jemand die Knie durchgehackt. Mit dem Hintern sei sie so hart auf dem Boden gelandet, dass jedes Huhn ringsum die Flucht ergriffen habe. Während Tilly – die wie verrückt von einer Hütte zur anderen raste und dafür sorgte, dass die Worte »Massa is’ tot« sich so schnell verbreiteten, dass bald schon die Sklaven in London darüber redeten –, während Tilly also sagte, Kitty habe sich gegrämt: »Mein Wurm, mein Wurm«, als sie hörte, im Mühlenhof tobe ein Steit darüber, ob man die von einem bösen Wind hereingewehten Fremden verstecken oder den Bakkra benachrichtigen solle.
Doch in einem stimmten die drei überein: Als Kitty – die so bestialisch stank wie ein Misthaufen in der Sonne – sie an jenem Tag verließ, um July zu suchen, sei sie so zielstrebig und unbekümmert losgegangen, dass sie mit nackten Füßen durch ein brennendes Feuer schritt, ohne die sengende Hitze zu spüren.
Cornet Jumps Haus lag auf der Strecke, die Kitty an jenem Abend nahm, und er war fest davon überzeugt, es seien die Schritte der vorübergehenden Kitty gewesen, die sein Haus fast zum Einsturz gebracht hätten. Seine Frau Peggy hingegen schwor, dass das Rumpeln der Erde, welches ihre wackelige Behausung an jenem Abend erschüttert hatte, von der Miliz stammte, die gegen sie anrückte. Es waren die weißen Männer zu Pferde, die das Negerdorf angriffen – zehn, zwanzig, dreißig, sie wusste nicht, wie viele. Aber das Stampfen der galoppierenden Pferde hatte zur Folge, dass ihr Milchkrug vom Tisch fiel und auf dem Lehmboden zerschellte.
In diesem Moment kam Bessy hereingestürmt und schrie: »Lauf, lauf, Miss Peggy. Der weiße Mann kommt. Der Bakkra haut uns zu Brei!«
Peggy behauptete, Bessy sei mit solcher Wucht zur Tür hereingestürzt, dass es diese aus den Angeln gehoben habe. Bessy habe mit beiden Füßen auf der unnützen Tür gestanden, als sie ihnen erzählte, die Miliz fahnde nach den beiden hereingewehten Fremden, denn diese hätten den Massa getötet. Peggy kann sich noch daran erinnern, wie sie über die Trümmer der Tür hastete, um Kitty daran zu hindern, zum Mühlenhof zu gehen – sie umzudrehen und dazu zu bewegen, mit ihr in die Zuckerrohrfelder zu fliehen. Doch Kitty habe sie abgeschüttelt, um ihren Gang zur Mühle fortsetzen zu können.
Cornet wiederum erklärte, die Tür zu seiner Hütte sei von Mason Jackson, dem Treiber, eingetreten worden, während er das Muschelhorn blies, zum Zeichen, dass alle sich im Hof versammeln mussten; denn der Treiber hatte die Tür schon von dem Moment an eintreten wollen, als Cornet es gewagt hatte, ein Schloss daran zu befestigen.
Wie ein Ameisenbau, in dem ein Junge mit einem Stock herumstochert, geriet das Negerdorf alsbald in helle Aufregung. Giles Millar zufolge ritt die Miliz mit großer Geschwindigkeit mitten in die Menschenmenge. Das Unwetter weißer Männer auf galoppierenden Pferden brach über die Feldwege herein. Sie schwenkten Peitschen, Äste, Macheten, schlugen nach rechts und nach links und prügelten auf alles ein – Mann, Frau, Kind oder Tier –, was sich in ihrer Reichweite befand und nicht fliehen konnte. Die Hufe ihrer dahinpreschenden Pferde brachten die Wände der Lehmhütten zum Einsturz, als wären sie trockene Kekse.
Nach einem mächtigen Knacken und Krachen fand Mary Ellis sich nicht länger in ihrem Versteck unter dem Eckregal in ihrer Hütte wieder, vielmehr saß sie hilflos und halb erstickt auf einem Schutthaufen und starrte den Mond an. Alle, sagte Mary, die kein Obdach mehr
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