Das lange Lied eines Lebens
alle Ehre …, kitzelten Caroline Mortimers Eitelkeit und sorgten dafür, dass der Bericht, den sie abgab, sich allmählich zu einem des fantasiebegabtesten Schriftstellers würdigen Lügengespinst auswuchs.
Bald schon nahm Caroline Mortimer, als sie sah, dass der Nigger ihren Bruder erschossen hatte, ihr Pistol mit dem Perlmuttgriff zur Hand und machte sich selbst auf Verfolgungsjagd. Obwohl vor Kummer außer sich, war sie fest entschlossen, den Nigger an den Galgen zu bringen. Und Tam Dewar, der zu Beginn ihrer Geschichte lediglich Aufseher gewesen war und, wie jedermann wusste, ein eher unangenehmer, vulgärer und grobschlächtiger Schotte, verwandelte sich Schritt für Schritt in einen edlen Ritter. Er nahm sie in die Arme, um ihr zu schwören, er werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um den Verantwortlichen für dieses abscheuliche Verbrechen seiner gerechten Strafe zuzuführen. Der Nigger Nimrod, man braucht es kaum zu sagen, wurde zu einem barbarischen und blutrünstigen Wesen, verschlagen wie ein tollwütiger Hund und tückisch wie eine kriechende Schlange. July tauchte in keiner dieser Erzählungen auf, bis auf das eine Mal, da sie vor lauter Angst einen Krug Wasser verschüttete wie ein Tollpatsch. Und
was die Sklavin betraf, die über unseren edlen, tapferen und aufrechten Tam Dewar hergefallen war (das heißt Miss Kitty), so handelte es sich um eine schwarze Teufelin, die die Weißen auf der Insel mit erbarmungsloser Grausamkeit, groben Fäusten und scharfen Zähnen zur Strecke brachte, um sie anschließend zu verbrennen.
Ohne sich darum zu sorgen, dass eine glaubwürdige Person (wie July) vortreten und das Geschehen aus einem ganz anderen Blickwinkel erzählen könnte, war Caroline Mortimer, als sie ihre Geschichte zum fünften Mal wiedergab, zu deren resoluter Heldin geworden.
Schließlich war Caroline so überzeugt von ihrer eigenen Waghalsigkeit, so verliebt in ihre oft beschworene Kühnheit und so begeistert von ihren eingebildeten Fähigkeiten, dass sie sich, als die Zeit herannahte, da die Pflanzer und die Wichtigtuer in der Gemeinde ihr Ratschläge erteilten, was mit der Plantage ihres Bruders geschehen solle, vor Eitelkeit aufplusterte und kundtat: »So wahr mir Gott helfe, ich werde dafür sorgen, dass die Plantage mit Namen Amity blüht und gedeiht und zu einem würdigen Denkmal für meinen lieben verstorbenen Bruder wird.«
Nicht einmal zwei überraschend großzügige Angebote ihrer Nachbarn im Westen und im Süden – für die Ländereien, die Sklaven, das Sudhaus, das Herrenhaus und sogar für die Unkosten, die beim Wiederaufbau des Sklavendorfes und des ausgebrannten Krankenhauses mit Sicherheit anfallen würden – konnten Caroline Mortimer dazu überreden, dass ein Rückzug aus Jamaika und damit ein ruhiges Leben in Islington, England, ein größeres Anrecht auf ihre Entschlossenheit hätten.
Auch war sie nicht damit einverstanden, dass ein Anwalt die Angelegenheiten ihres Bruders verwalten sollte. Nein. Die Gaukelbilder ihrer Erinnerung verleiteten sie zu der Erklärung, wer glaube, dass Caroline Mortimer an diesen Missgeschicken und Anfechtungen zerbrechen werde, verkenne ihren Charakter.
Allein auf sich gestellt, werde sie Amity zur wohlhabendsten Plantage in ganz Jamaika machen. Ihr Bruder hätte nichts anderes von ihr erwartet.
Doch es dauerte nicht lange, bis der feste Biss der nackten Wahrheit die Missus zu ernüchtern begann. Als sie den stinkenden, feuchten Raum im Kontor betrat, um die Geschäftsbücher ihres verstorbenen Bruders ernstlich zu prüfen, wurde ihr bald klar, dass das Vermögen von Amity bei Weitem nicht so umfassend war, wie sie es sich vorgestellt hatte, als sie noch auf ihrem Ruhebett schlummerte.
In ihrem ersten Jahr als Plantagenbesitzerin musste sie die Zuckerrohrfelder von Virgo und Scarlett Ponds brachliegen lassen, da sie über keine Sklaven verfügte, die sie bestellen konnten. Einige waren während des Aufruhrs umgekommen, andere im Namen von Recht und Gesetz ihrer Gliedmaßen beraubt worden. Selbst als es ihr gelang, die Rückgabe der sieben Sklaven, zumeist Zimmerleute, zu erbetteln, die ihr verstorbener Bruder nach Unity Pen ausgeliehen hatte, vermochte sie nicht genügend Arbeitskräfte zu beschaffen, damit sich das Mühlrad ohne Unterbrechung drehte und der Zuckerrohrsirup in den Kesseln brodelte. Und weder mit einem Lächeln der Freundschaft noch mit charmant ausgehandelten Bargeldbeträgen konnte sie kräftige Schwarze erwerben, um ihr
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