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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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keine Krankheit nich’, kann man abwischen«, oder: »Vorsicht, Missus – Tripper!« Wenn July ihr schon damals geholfen hatte, als sie kaum mehr als ein Kind gewesen war, um wie viel besser würde sie es jetzt können? Es galt, die Anwesenheit der Sklaven zu überprüfen, Entschädigung zu beantragen, immer wieder neue Aufseher und Buchhalter aufzutreiben …
    »Geht nich’, Missus«, sagte July zu ihr.
    »Unsinn. Wenn ich sage, du machst das, dann machst du das«, zwitscherte ihre Missus. »Wir lassen die Neger antreten, sie werden ihren Namen nennen, und du wirst ihn ins Register eintragen. Das brauche ich für die Inspektion wegen der Entschädigung.«
    »Aber ich kann das nich’, Missus«, wiederholte July. »Kann nich’ lesen, nich’ schreiben.«
    Die Wucht dieser plötzlichen Erkenntnis warf ihre Missus fast um.
    »Ach, Marguerite«, sagte sie aufgebracht, »um alles in der Welt, warum denn nicht?«
    Name, Geschlecht, Alter. Dies waren die ersten Worte, die July schreiben konnte – auch wenn ihr bei jedem Federstrich die Zungenspitze zwischen den Lippen hervorlugte. Als sie zum
ersten Mal mit stockendem Atem Buchstaben zu einem Wort zusammensetzte, sprang ihre Missus auf die Füße und klatschte in die Hände: »Ja, ja, o ja, Marguerite.«
    Caroline Mortimer erwies sich als ausgezeichnete Lehrerin – aus der Stadt hatte sie sich Tafel, Kreide und Zeigestock bringen lassen. Sie nahm Julys Hand in ihre eigene, um die Buchstaben des Alphabets einen nach dem anderen nachzuziehen. Sie schrieb einfache Wörter an die Tafel und befahl July, diese abzumalen, so ungeschickt sie sich dabei auch anstellte. Sie las sogar laut und langsam aus Büchern vor und fuhr mit Julys Finger unter den Zeilen entlang, bevor sie von ihrer Schülerin verlangte: »Sprich mir nach … Sprich mir nach … Sprich mir nach.«
    Obwohl ihre Missus der Unterrichtsstunden irgendwann müde geworden war – die staubige Tafel wurde weggeschafft und in der Küche als Tischplatte verwendet –, fuhr July noch lange eifrig fort zu lernen. Im Herrenhaus lagen zahlreiche Zeitschriften und Bücher herum, deren Seiten mit schwarzen Druckbuchstaben übersät waren wie mit Fliegendreck und die July aus reiner Sturheit zu entziffern begann, ein langsames Wort nach dem anderen, bis das Kribskrabs mit Sinn und Bedeutung tanzte. Vorsteher, Handwerker, Untergebener, Feldarbeiter, Hausdiener – schon bald begann July, diese Wörter ebenso schnell zu lesen wie auszusprechen und sie ohne Zuhilfenahme ihrer Zunge hinzuschreiben.
    July war jetzt eine junge Frau, groß, aber nicht von so kolossaler Gestalt wie ihre Mama Kitty. Ihr Haar war nicht mehr der Strubbelkopf ihrer Jugend, sondern ordentlich geflochten und stets mit einem sauberen bunten Tuch bedeckt. Ihr voller Mund hatte noch immer denselben verschmitzten Ausdruck, als könne ihm jederzeit eine sarkastische Bemerkung oder eine Halbwahrheit entschlüpfen. Doch in ihren lebhaften schwarzen Augen hätte ein aufmerksamer Beobachter die
Schmerzen erkennen können, die sie heimsuchten. Denn ihre Träume waren so tyrannisch, plagten sie mit so quälenden Vorkommnissen, dass July es nicht fertigbrachte, nachts mehr als vier Stunden zu schlafen. In unbedachten Momenten konnte ein Erschlaffen der Augenlider, ein Herabfallen des Unterkiefers ihren Gesichtszügen einen trübsinnigen Ausdruck verleihen, und das geschah so rasch, als wäre sie eine Puppe mit zwei Gesichtern.
    Aber July war für Caroline so wichtig, dass die Missus für den Verlust ihres Eigentums einunddreißig Pfund Entschädigung bekommen hatte. Florence und Lucy waren viel weniger wert – neunzehn Pfund und zehn Shilling –, denn sie waren untergeordnete Sklavinnen, die nur dazu taugten, die Kleider der Missus zu waschen, zu bügeln und zu Lumpen zu walken. Byron – mittlerweile feuriger junger Reitknecht auf Amity – brachte lediglich dreizehn Pfund und vier Shilling ein, sein Körper war zu schlaksig.
    July war mit ihrem Preis zufrieden gewesen. Einunddreißig Pfund! Damit pflegte sie anzugeben. Dann entdeckte sie eines Tages bei der Durchsicht einiger Papiere, dass die Missus auch für die nutzlose einäugige Molly einunddreißig Pfund Entschädigung erhalten hatte.
    Inzwischen war July eine Bedienstete, die lesen und schreiben konnte – und zwar besser als viele Weiße auf der Insel; sie besaß genug Verstand, um selbst bei den habgierigsten Negerhändlern die günstigsten Preise herauszuschlagen, folglich waren die Vorratsräume

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