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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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lebendes Inventar aufzustocken. Denn jeder Pflanzer im Umkreis behauptete, dasselbe Schicksal zu erleiden. Innerhalb eines Jahres, nachdem der Plantagenbesitz vom verstorbenen Bruder auf die verblendete Schwester übergegangen war, hatte sich die Zahl der Fässer, die aus der Fabrik der Plantage rollten, auf ein Zehntel reduziert.
    So pflichtete die Missus ihrem damaligen Aufseher bei (wie ich glaube, der dritte; der zweite lag mit Pocken darnieder), allen Sklaven, die untätig oder träge waren und schlecht arbeiteten, mitzuteilen, dass ihre Häuser, solange sich ihre Arbeitsleistung nicht verbessere, als Letzte wiederaufgebaut würden.
Sie erklärte sich damit einverstanden, dass ihre Sklaven für eine bestimmte Zeit ohne die gewohnten Pausen arbeiten sollten, bis die Plantage mit Namen Amity wieder in voller Blüte stehe. Im zweiten Jahr willigte sie ein, in der Nähe des ausgebrannten Krankenhauses ein neues Verlies zur Züchtigung jener Neger zu erbauen, die sich als unverbesserlich und untüchtig erwiesen. »Was kann das schon schaden?«, sagte sie zu diesen Vorkehrungen.
    Schließlich wurde unserer Missus und allen anderen Pflanzern der Karibik eine Lehrzeit aufgezwungen. Hoffnungsfroh wie die Hebräer beim Auszug aus Ägypten strömten die Sklaven, die auf Amity arbeiteten, von ihrer Plantage in die Stadt, um dem weißen Mann, »dem Massa aus England«, zuzuhören, der ihnen vom Balkon des Gerichtsgebäudes aus die Einzelheiten der Vorbereitungen auf die Freiheit erläuterte.
    Obwohl sie verpflichtet waren, weitere sechs Jahre ohne Bezahlung für die Missus zu arbeiten, glaubten die Sklaven, nachdem sie gehört hatten, wie ihr Moses in beigen Hosen die Sklaverei für beendet erklärte, dass sie nun tatsächlich frei seien. Sie weigerten sich, länger als jene vierzig Stunden die Woche zu arbeiten, die König William IV. und das Gesetz von England ihnen nunmehr abverlangten. Aufforderungen zu ordentlichem Benehmen und zu »Gehorsam gegenüber allen Amtspersonen« hatten nicht die geringste Wirkung auf Caroline Mortimers Sklaven. Und vierzig Stunden die Woche reichten einfach nicht aus, um das Zuckerrohr zu ernten. Kein Anreiz und kein Aufseher (gewiss nicht die beiden trunksüchtigen walisischen Rüpel, die die Feldarbeit zu jener Zeit beaufsichtigten) konnten ihre Neger dazu bewegen, länger zu arbeiten.
    Trotzdem musste sich Caroline Mortimer um die Neger genauso kümmern wie zuvor – mit Unterkunft, Nahrung und Kleidung. Die Missus klagte, dass die Entschädigung der Regierung zwar schon bald in ihrer Geldbörse klingeln mochte, ihre Ernte jedoch auf den Feldern liegen bleibe. Die englischen
Süßmäuler wussten einfach nicht, welche Schwierigkeiten sie ihretwegen auf sich nehmen musste.
    Dann kam eines regnerischen, stürmischen Morgens ein durchweichtes und verwahrlostes Häuflein der hoffnungslosesten, jammervollsten und erbärmlichsten Neger durch die Anlagen des Herrenhauses geschlurft – eine müde Abordnung. Sie hätten eine Beschwerde wegen des Verlieses, riefen sie, und seien gekommen, um sich mit der Missus zu unterreden.
    Caroline erlaubte der hässlichen Gruppe nicht, weiter als bis zum unteren Ende ihres Gartens vorzudringen. Die geschwächten Lehrlinge konnten den Windböen kaum standhalten und mussten gegen sie anschreien. Und sie erzählten eine Geschichte von so unbarmherziger Folter und so verabscheuungswürdigen Zuständen in jenem Haus der Züchtigung, dass die Missus zu dem Schluss gelangte, es müsse wohl der peitschende Wind sein, der die Geschichte in ihren Ohren so wirklichkeitsfremd klingen ließ.
    So sagte sie freundlich, indem sie sie mitleidig ansah, zugleich aber die Augen verdrehte: »Was für ein Unfug.«
    »Dann kommt und seht es Euch selbst an«, bettelten sie – nicht ein Mal, nicht zwei Mal, sondern immer und immer wieder, bis die Missus den Kopf schüttelte, sie fortwinkte und ihnen erklärte, sie habe keine Zeit.
    Voller Verzweiflung holte einer der dürrsten und unterernährtesten Männer des Trüppchens (James Richards, ein Zimmermann) tief Luft und brüllte: »Der Massa würd’ kommen, wenn er noch am Leben wär’.«
    Und damit hatte er Carolines ungeteilte Aufmerksamkeit gewonnen. Noch am selben Nachmittag bestieg sie ihr Pferd.
    Der Aufseher, Henry Reed, war nicht aufzutreiben, und so war es der unreife Buchhalter mit dem scharfen Schweißgeruch, der widerstrebend dem Befehl der Missus gehorchte, sie in das Verlies hinabzuführen.
    Der schmale Gang und die

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