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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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beiden Zellen mit den gewölbten Decken waren vollkommen dunkel, als die Missus das Gefängnis
betrat. Der Gestank – wie der einer verwesenden Ratte – legte sich um sie, und doch glaubte sie, dass die winzigen gemauerten Zellen leer seien. Erst als ihre Augen sich allmählich an die Düsternis gewöhnten, entdeckte sie, dass die schwarzen Wände sich bewegten, so wie man Fledermäuse in einer Höhle eher ahnt denn sieht. Die schlängelnden Bewegungen in diesem Dunkel stammten jedoch nicht von fliegenden Nagetieren, sondern von den vielen Negern, die Insassen dieser Zellen waren und sich in ihren Ketten wanden. Nun, da sie die Besucher bemerkten, wurden ihre Bewegungen noch dringlicher. Das Kratzen von Metall, das Klirren von Hand- und Fußeisen, das Gejammer heiserer Stimmen, all das stürmte wie ein einziger Missklang auf Caroline Mortimer ein. Schwache und doch verzweifelte Blicke suchten in der schwarzen Finsternis nach ihr. Ein Mann (Richard Young aus der ersten Arbeitskolonne) war mit erhobenen Armen an die Wand gefesselt, eine nackte Frau (Catherine Wiggan, ebenfalls aus der ersten Arbeitskolonne) mit dem Hals an den Boden gekettet, ein Kind (Catherines jüngste Tochter Liddy, glaube ich) mit den Fußgelenken in den Stock geschlossen. Und dergleichen mehr. Und dergleichen noch viel mehr. Das Verlies war überfüllt.
    Die Missus floh.
    Als sie wieder im Herrenhaus war, ging Caroline Mortimer gleich zu Bett, wo sie Trost in einer Flasche ihres süßesten Madeira-Weines suchte. July fand ihre Missus, wie sie sich auf den Bettlaken erbrach. Sie stammelte den Befehl hervor, ihre Schrankkoffer zu packen, denn sie habe die Absicht, mit dem nächsten Schiff nach England zurückzukehren. »Ich hatte keine Ahnung, ich hatte keine Ahnung … Ich habe an eine Gefängniszelle gedacht mit Wasser und Brot und kargem Mobiliar … Ich bin eine christliche Frau … Glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich keine Ahnung hatte.«
    July konnte es nicht fassen, dass ihre Missus von den erbarmungslosen Zuständen im Verlies von Amity nichts gewusst
haben wollte. Denn alle Neger auf der Plantage, selbst die in der Küche, fürchteten seine Schrecken. Die Negerkinder hatten sich sogar einen Reim dafür ausgedacht; wenn sie mit Steinen spielten, sangen sie:
    Mama bittet Bakkra, mich nicht ins Verlies zu werfen,
Schwester bittet Bakkra, sie nicht ins Verlies zu werfen,
Missus sagt zum Bakkra: Geh und wirf sie ins Verlies,
Und hinunter gehn sie in das schreckliche Verlies.
    Während ihre Missus wimmernd ihre vorgebliche Unschuld beteuerte, sagte July mit einem Achselzucken: »Dann schließt das Verlies, Missus.« Als Caroline den Kopf hob, um July anzusehen, war ihr Gesichtsausdruck fragend wie der eines arglosen Kindes. Die Augen ihrer beschwipsten Missus hatten einen tiefroten Rand, ihre Wangen waren von trübster grauer Blässe, ihre Lippen mit getrocknetem Erbrochenem verkrustet, und ihr Haar saß schief auf ihrem Kopf wie die gesträubte Federhaube eines Kakadus. Einen kurzen Pulsschlag lang brandete Mitgefühl für diese hilflose weiße Frau – ihre fettarschige Missus – in July auf, aber dann verflüchtigte es sich gleich wieder.
    »Sagt dem Aufseher«, begann July von Neuem mit vorsichtiger Autorität, »sagt dem Mann, er muss das Verlies schließen. ’s darf nich’ mehr benutzt werden.«
    Und genau das tat Caroline. »Schließen Sie das Verlies. Schließen Sie es«, wies sie den Aufseher an, »und hoffen wir, dass der Friedensrichter nie davon erfährt.« Sie befahl Henry Reed, die Zellen nicht nur zu räumen, sondern sie auszuräuchern, um alles Verrohte daraus zu vertreiben. Henry Reed hat, wenn ich mich richtig erinnere, schon bald ihre Dienste verlassen und darüber geklagt, er habe keine Handhabe mehr, um aus den untätigen, trägen und schlecht arbeitenden Negern größere
Leistungen herauszupressen, das schreckliche Verlies jedoch gab es nicht mehr.
    Und nach dieser glänzenden Lösung des Problems blies sich unsere Missus so auf, dass sie verkündete, von diesem Tag an solle ihr das Hausmädchen July (oder Marguerite, wie sie sie hartnäckig weiterhin nannte) auch bei der Verwaltung der Plantage zur Seite stehen. Denn als ihr Bruder noch lebte, war es da nicht July gewesen, die neben Caroline Mortimer gestanden hatte, um montagmorgens die Drückeberger von den Kranken zu unterscheiden? »Nein. Dem seine Kopfschmerzen kommen von zu viel Rum«, pflegte July ihr zu sagen, oder: »Dem seine schwarze Zunge is’

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