Das lange Lied eines Lebens
auch bei einer mageren Geldbörse gut bestückt; sie schlichtete Streitereien unter den Haussklaven und sorgte dafür, dass die Boys ihre Arbeit erledigten; sie ritt an der Seite ihrer Missus und konnte einen Einspänner lenken; sie bürstete ihrer Missus die Haare und besetzte die Kleider ihrer Missus mit Spitze; und auf Geheiß ihrer Missus besuchte sie das Sudhaus – ihre Füße waren voller Kreide, wenn sie diesen Hades betrat –, um den Sud in den Kesseln zu prüfen und dem
Vorarbeiter die Befehle ihrer Missus zu überbringen. Und so viel mehr – zu viel, als dass ich es bei den geringen Papiervorräten, die mir zur Verfügung stehen, auflisten könnte.
Und Molly, geneigter Leser? Was tat die? Nun, Molly war inzwischen Köchin. Mit ihrer Vanillesauce konnte sie einen umbringen, und mit jedem Bissen ihrer ekligen Gerichte sorgte sie dafür, dass man sich mit wehmütigen Seufzern nach der verstorbenen Köchin Hannah sehnte. Einunddreißig Pfund für Molly! Ha! Aber das ist die Rache der Sklaverei, geneigter Leser. Das mitleidlose Dokument ließ unsere July so niedergeschlagen zurück, dass sie in diesem Moment wünschte, sie hätte nie lesen gelernt; so empört war sie, als sie erfuhr, dass hochmögende backenbärtige Weiße in England der Meinung waren, sie und Molly seien gleich viel wert.
Tick-tack, tick-tack, tick-tack. Als die Uhr in jener Nacht endlich die mitternächtliche Stunde schlug, mit der die Sklaverei endete, zählte July die Schläge mit leisem Atem mit: eins, zwei, drei, vier … bis der letzte, schicksalhafte Schlag zwölf volltönend durchs Zimmer zitterte.
Unterdessen zwitscherte ihre Missus noch immer vor sich hin: »Wenn ich John Lord gesagt hätte, ein anderer Aufseher sei ihm dicht auf den Fersen, um seinen Platz einzunehmen, das hätte ihn zum Schweigen gebracht. Ach, das hätte ich ihm sagen sollen. Das hätte ich sagen sollen, Marguerite.«
Durch das hohe Fenster konnte July inmitten des Zirpens der Zikaden und des Fiepens anderer Nachtgeschöpfe Schreie und Hurrarufe ausmachen, die durch die Luft klangen. Aus der Ferne dröhnten Trommelschläge. Muschelhörner piepsten und quiekten, die Freien zu wecken. Und ihre Missus fuhr fort: »Ich hätte ihm von dem Briefwechsel mit Mr Goodwin von Somerset Pen erzählen sollen. Dieser Aufseher bringt mehrere Empfehlungsschreiben mit. Er kommt morgen schon. Sogar Mrs Pemberton hat in den höchsten Tönen von ihm gesprochen.
Sie sagt, er versteht mehr von diesem Geschäft, als John Lord es je vermocht hätte. Ich hätte ihm von dem neuen Aufseher erzählen sollen. Ach, warum fällt mir nie rechtzeitig eine schlagfertige Antwort ein?«
Um das endlose Geschwätz ihrer Missus zu unterbrechen, zog July in Erwägung, sich von ihrem Stuhl zu erheben und mit ihren nackten schwarzen Füßen in die Fußstapfen all jener weißen Aufseher zu treten – die Stufen der Veranda hinabzugehen und sich aus den Diensten ihrer Missus zu entfernen. Stattdessen blieb sie am Fenster sitzen, begann laut zu gähnen und sich der Länge nach zu strecken. Bald starrte Caroline Mortimer sie an.
»Hörst du mir denn gar nicht mehr zu, Marguerite?«, fragte sie.
»Doch, doch, Missus«, erwiderte July, »hab nur grad daran denken müssen, dass ich jetzt frei bin.«
Plötzlich war ihre Missus besänftigt. Wie lange blickte sie July in dieser bedrückenden Stille an? Lange genug, dass die wirren Klänge einer Geige und eines Beckens, die von ferne leise durch das geöffnete Fenster drangen, sich in den Ohren der beiden Frauen allmählich zu einer deutlichen Strophe und einem deutlichen Kehrreim fügten. Da verzogen sich Caroline Mortimers gerötete Wangen und sorgenvolle Augen zu einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es anmutig wirkte. Und plötzlich sagte die Missus ziemlich außer Atem: »Aber du wirst mich doch wohl nicht verlassen, Marguerite?«
ZWANZIGSTES KAPITEL
Anderntags um elf Uhr hörte man, wie sich dem Herrenhaus von Amity ein Pferd näherte. Der Reiter stieg von seinem Ross und kam selbst im Galopp die Stufen heraufgesprungen. Aber Robert Goodwin betrat die Veranda nicht, indem er Byron anknurrte, er solle sein Pferd festhalten, oder er werde dafür sorgen, dass er ausgepeitscht würde, wie so viele Aufseher vor ihm es getan hatten. Er rief nicht: »Oi, jemand zu Hause?«, und schlug nicht mit der Faust an den Pfeiler des Dachvorsprungs, dass das ganze Haus erzitterte. Er nuschelte nicht wie der irische Aufseher und rülpste nicht seinen nach Porter
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