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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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konnte alles auf einen Blick lesen, doch zu ihrem Verdruss kämpfte sie noch immer mit dem Wort »Bequemlichkeit«, als ein Pferdewägelchen in die Straße einbog. Beide Frauen traten zurück, um es in sicherer Entfernung passieren zu lassen, denn sie wollten keinen weiteren Staub aufwirbeln sehen, der sie würgte.
    Aber dann rief eine Männerstimme: »Hallo da drüben, hallo da drüben«, und beide wandten den Kopf, um den Rufer zu betrachten.
    Und dort oben auf dem Wägelchen, in seinem braunen Cutaway-Rock und mit seinem Panamahut auf dem Kopf, saß Robert Goodwin. Das lebhafte Lächeln, das die Augen des Aufsehers beseelte, als er sagte: »Ich wünsche einen schönen guten Tag«, war voller Freude wie bei jemandem, der einen lieben alten Freund begrüßt. July wandte sich zu Miss Clara, um ihre Reaktion zu prüfen, denn sie war überzeugt, dass der Weiße Miss Clara begrüßt hatte. Doch dann sagte er: »Machst du heute eine Besorgung für deine Missus, Miss July?« Und obwohl Miss Clara ihren Sonnenschirm so heftig drehte, dass seine Helligkeit selbst ein blindes Geschöpf zu ihr gelockt hätte, ließ Robert Goodwin seinen Blick fest auf July ruhen.
    »Sicher, Massa«, sagte July.
    »Darf ich dich dann nach Amity mitnehmen?«, fragte er sie. »Ich bin mit meinen Angelegenheiten hier fertig und fahre jetzt zurück.«

    Nun war July eigentlich auf dem Weg in die Stadt und hatte noch gar nicht nach den gelben Glacéhandschuhen gesucht, die ihre Missus so dringend benötigte.Aber das wusste nur sie. Und wozu auch brauchte ihre Missus ein weiteres Paar Handschuhe? Bolton-Daumenschnitt, ha! – wo sollte sie Bolton-Daumenschnitt finden? In der ganzen Stadt gab es keine gelben Glacéhandschuhe mit Bolton-Daumenschnitt – dessen war sich July mit einem Mal ganz sicher. Denn an jenem Tag bestand Julys ganzer Lebenszweck darin, allein mit einem weißen Mann auf einem Pferdewägelchen davonzufahren, während Miss Clara dabeistand und zusah.
    »Ja. Ich danke Euch«, sagte July zu Mr Goodwin. Dann gab sie Miss Clara die Visitenkarte zurück und sagte: »Guten Tag auch, Miss Clara.«
    Miss Clara sagte, sie könne sie behalten, um sie dem weißen Mann zu übergeben. Und July antwortete, er benötige sie nicht, und sie solle sie wieder an sich nehmen. All das wurde mitgeteilt, ohne dass auch nur ein einziges Wort fiel. Die stumme Botschaft wurde mit den minimalen Handbewegungen, dem winzigen Muskelzucken einer wortlosen Sprache übermittelt, die die Sklaven aus Furcht vor der Einmischung der Weißen erlernt hatten – und selbst die schöne Miss Clara wusste noch, wie man sich ihrer bediente.
    Als Robert Goodwin von seinem Wägelchen sprang, um July hinaufzuhelfen – als wäre sie eine zierliche weiße Miss –, trat Miss Clara vor, um Mr Goodwin die Karte persönlich zu überreichen. Doch mit einer schroffen Gebärde, wie keine Weiße sie je an einem Gentleman gesehen hatte, schlug er sie aus, ohne Miss Clara auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Als der Karren die Straße entlangfuhr, dachte July, die oben saß, wie schade es doch sei, dass sich Miss Clara nicht den ausgenommenen Fisch auf der Steinplatte zum Vorbild nahm; denn von Miss Claras starrer Miene konnte July jede ihrer Empfindungen ablesen.

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    Das Wägelchen fuhr noch auf der ausgetrockneten Straße entlang, war noch nicht außer Miss Claras Sichtweite. Nicht einmal an Ebo Cornwall war es vorbeigekommen, und schon begann July – während sie dem jungen Aufseher zum dritten Mal sagte: »Ja, ja, ich sitz ganz bequem« – darüber nachzudenken, was für eine Art Kleid sie gern tragen würde, wenn sie sich wie Miss Clara einen Weißen als »Ehemann« angeln könnte.
    Als Robert Goodwin zögernd die Stirn runzelte, mit dem Kopf in Miss Claras Richtung deutete und fragte: »Miss July, ist die Frau da eine Freundin von dir?«, war unsere July, die es bei dem Gedanken, sich diesen sanften jungen Mann zu angeln, ziemlich kribbelte, daher eifrig darauf bedacht, ihn zu beeindrucken.
    »O ja, Miss Clara, das is ’ne gute, ’ne sehr gute Freundin von mir, ’ne gute, ’ne sehr gute Freundin, schon seit langer Zeit.Wenn wir uns auf der Straße begegnen, plauderplauschen wir immer, so gute Freundinnen sind wir, o ja«, antwortete July. Denn sie war sicher, dass der weiße Mann entzückt wäre, dass sich eine so tief stehende, dunkelhäutige Mulattin und Hausbedienstete wie sie der engen Bekanntschaft mit einer so vornehmen, schönen und

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