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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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getroffen.

    Doch nun, an jenem heißen, heißen Tag auf der schäbigen, staubigen Straße sah Miss Clara erneut an ihrer schmalen, hochgebogenen Nase herab und heftete ihre Verachtung auf Julys Kopf. July empfand, als habe eine feste Hand sich schwer auf sie gelegt. Bald würden sich die grünen Augen und der zarte Mund zu mitleidigem Spott verschwören, bis July sich wie das hässlichste Wesen vorkäme, dem eine farbige Frau an diesem glühend heißen Morgen begegnen konnte.
    »Tag, Miss Clara«, sagte July in der Hoffnung, schnell weitergehen zu können.
    Doch Miss Clara fasste July am Arm, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. July bemerkte die vier goldenen Ringe an Miss Claras Fingern nicht. Vier! Zwei davon mit grünen Steinen, die aneinanderklirrten, groß wie geschwollene Fingerknöchel – doch July sah sie nicht. Auch die zarten Rubinperlen, die wie kleine Blutstropfen in die eindrucksvolle Goldkette an ihrem Hals eingefasst waren, nahm sie nicht wahr.
    »Haste heut keinen Sonnenschirm nich’, Miss July? Wirst ja noch ganz braun«, sagte Miss Clara.
    July hatte einen Sonnenschirm – den ihre Missus abgelegt hatte –, aber erst kürzlich hatte Molly sich daraufgesetzt und zwei Speichen zerbrochen, sodass sie wie ein gebrochener Vogelflügel herabhingen. Wenn sie nach Amity zurückkehrte, durfte sie nicht versäumen, Molly wegen dieser ärgerlichen Missetat noch einmal zu ohrfeigen.
    »Miss July, arbeitste also immer noch für die dicke Missus auf Amity?«, fragte Miss Clara von oben herab.
    »Stimmt, Miss Clara, obwohl meine Missus nich’ mehr so dick is’«, antwortete July.
    »Davon hab ich aber nichts gehört«, sagte Miss Clara, bevor sie fortfuhr: »Ich könnt’s nicht ertragen, immer noch auf einer Plantage zu leben. Ich auf einer Plantage!« Und wie Miss Clara da lachte! Sie hob die Hand, um ihren Mund zu bedecken, aus dem kleine Heiterkeitsausbrüche quollen. Dann fasste sie sich
wieder, schüttelte ernst den Kopf und sagte: »Die Frau eines weißen Mannes auf einer Plantage«, bevor ihr angesichts einer so lächerlichen Zumutung wieder ein liebliches Kichern entfuhr. »Mein Mann würd das niemals erlauben.«
    Mein Mann! O ja, July hatte den Tratsch über Miss Claras Mann sehr wohl vernommen. Die ganze Gemeinde wusste, dass Mr William Walker, der Anwalt auf der Plantage Friendship, für ihre Tanzveranstaltungen bezahlt und ihre Hand mit Geld erworben hatte. Ihr Mann! Dieser dickbäuchige, glatzköpfige, hässliche alte Weiße hatte in England eine Frau und fünf Kinder. Eine Hochzeitsfeier hatte es nie gegeben – zumindest keine, bei der eine Menschenmenge in einer Kirche zugegen gewesen wäre. Miss Clara hatte sich einfach die verschrumpelten Geschlechtsteile dieses reichen Engländers gegriffen und führte ihn nun daran herum.
    »Er hat mir ’n Fremdenheim gekauft, mein Mann«, fuhr Miss Clara fort. »Kennst es ja sicher, das große weiße Haus an der Ecke der Trelawny Street, in der Nähe meines Geschäfts.« Graziös schwenkte sie ihre Hand in Richtung jener nahe gelegenen Straßenecke, bevor sie ihre teuflischen grünen Augen wieder auf July richtete, um sich voller Wonne an ihrem Neid zu ergötzen.
    Aber July verriet mit keinem Gesichtsmuskel, dass sie auf Miss Clara eifersüchtig war. Ein ausgenommener Fisch auf einer Steintheke hätte seine Gefühle beredter preisgegeben.
    »Wussteste nichts von meinem Fremdenheim?«, fuhr Miss Clara fort. »Hätt’ gedacht, jeder hätt’ davon gehört. Aber warte.« Sie stöberte in einem kleinen weißen Seidentäschchen, das von ihrem Handgelenk baumelte, und kramte eine Visitenkarte hervor. Die hielt sie July hin. Doch als July sich vorbeugte, um sie an sich zu nehmen, zog Miss Clara ihre Hand zurück und sagte: »Oh, hab ganz vergessen, dass Plantagensklaven nich’ lesen können.«
    Da entriss July ihr die Karte und sagte: »Wir sind keine Sklaven nich’ mehr, Miss Clara. Ich nich’ und du auch nich’.«
Dann hielt sie die Karte vors Auge und begann laut und klar zu lesen: »Miss Claras Pension, zur Bequem… zur Bequem…« July stolperte über das Wort »Bequemlichkeit«, denn sie hatte es noch nie zuvor gesehen. So viele Buchstaben, aber keiner davon ergab auch nur den geringsten Sinn in ihrem Kopf.
    »Oh, deine Missus lässt dich jetzt wohl ’n bisschen lesen?«, sagte Miss Clara.
    Auf der Karte stand etwas von Militärs und von Familien, von der feinsten und saubersten Pension für Damen und Herren von Stand und so weiter. July

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