Das lange Lied eines Lebens
zuhörte und nickte, fuhr sie fort: »Hat mich aufs Knie gesetzt und in die Wangen gekniffen – so.« Und sie machte es ihm vor, indem sie sich in die Wangen kniff und sie weit auseinanderzog, um ihm die Verspieltheit ihres Papas vorzuführen. »Und mein Papa hat gesagt: ›Eines Tages, mein kleiner Schatz‹ – hat mich immer ›mein kleiner Schatz‹ genannt –, ›nehme ich dich mit nach Schottland‹.«
Da wurde das Gesicht des Aufsehers etwas weicher… ein bisschen vielleicht.
»Wie hieß dein Vater?«
»Mein Papa hat Tam Dewar geheißen.«
»Tam Dewar«, wiederholte der Aufseher. »Den Namen kenne ich doch. War er nicht früher einmal Aufseher auf Amity?«
»Ja«, antwortete July. »War ’n guter Aufseher. War ’n freundlicher Massa, freundlich zu allen.«
»War Tam Dewar mit deiner Mutter verheiratet, Miss July?«
Was für eine dumme, dumme Frage war denn das nun wieder? Sag mir, geneigter Leser, hast du je von einem Aufseher auf einer Zuckerplantage gehört, der daran gedacht hätte, eine Sklavin zu heiraten, die er geschändet hat? July hätte sich als Lügnerin ohne Sinn und Verstand erwiesen, wenn sie ihm mit einem Ja geantwortet hätte. Und ein Nein hätte zur Folge gehabt, dass der Mann sich von ihr abwandte.
Auf einen Schlag gab July die Idee auf, den weißen Mann zu betören, denn damit war zu viel Mühe verbunden. Und was für ein törichtes Unternehmen. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass sie viel zu dunkel war und eine viel zu niedrige Hausbedienstete, als dass ein so vornehmer Engländer wie Robert Goodwin etwas Schönes an ihr hätte finden können. Obwohl July nicht aufrichtig genug war, um zu antworten, dass ihr Papa ihre Mama einfach mehrere Male vornübergebeugt hatte, um sie von hinten zu nehmen, und dass ihre Mama ihn später dafür umgebracht hatte, so zeigte sich doch in dem, was sie tatsächlich sagte, eine gewisse Gewandtheit im Umgang mit der Wahrheit: »Er is’ gestorben, Massa. Grad als mein Papa meine Mama zur Frau nehmen wollte … beide sind se bei den Ausschreitungen umgekommen.« Als diese Worte heraus waren, hob July die Hände vor die Augen. Um zu verhindern, dass Tränen flossen? Nein. Es war nur ein kunstvolles So-tun-als-ob.
Da er glaubte, dass sie weinte, wurde Robert Goodwin plötzlich besorgt. »Es tut mir leid«, sagte er. »Habe ich dich gekränkt?«, fragte er. »Verzeih mir«, bat er. Einen kurzen Augenblick später legte er zärtlich seine Hand auf Julys Arm. Und wie ihre Haut bei dieser Berührung prickelte!
Natürlich stieß July gegen ihn, als er ihr vom Wägelchen half, denn sie stolperte über das Trittbrett – das kann bei so einem Pferdewägelchen leicht passieren. Und als er sie umfasste, um sie wieder aufzurichten, hielt er sie einen langen Augenblick fest und stark in den Armen. Und während seine klaren blauen
Augen nicht von den ihren wichen, waren ihre Gesichter einander so nahe, dass July dieselbe Luft atmete wie er.
»Miss July«, sagte er, als er sie losließ, »ich habe ein Buch über Schottland.« Er holte Atem, um weiterzusprechen, stockte jedoch. Mit der Zunge befeuchtete er sich die Lippen, dann fuhr er fort: »Jemand hat es mir geschenkt.« Er sah sich rasch um, bevor er leise fragte: »Vielleicht erlaubst du mir, es dir irgendwann einmal zu zeigen?« Dann trat er so schnell zurück, dass man hätte glauben können, er sei von July weggesprungen. Und als er zum Abschied den Hut vor ihr zog, wurde sein Gesicht rot wie eine gesottene Garnele.
»Danke, Massa«, erwiderte July mit einem breiten Lächeln, »klar erlaub ich’s Euch.«
Weißer Musselin, beschloss July, als er nach Byron rief, damit er sich um das Pony kümmerte, und dann fortging. Ein Kleid aus weißem Musselin wäre ihr sehnlichster Wunsch.
Robert Goodwin ruhte so friedlich in seiner Hängematte, dass July, als sie sich auf Zehenspitzen die Stufen zu seiner Veranda hinaufstahl, zwei Spottdrosseln im Geäst des Orangenbaums zuwinkte, sie sollten ihren trillernden Gesang beenden. Weder mit der Handbewegung noch mit dem kleinen Stein, den sie nach ihnen warf, ließen sie sich zum Schweigen bringen. Doch ihr beharrlicher Lärm störte den Aufseher nicht in seinem Mittagsschlaf. Es war eine Woche her, seit July ihn gesehen hatte, und nun stand sie lange Zeit über ihn gebeugt.
Noch nie hatte sie auf der Insel jemanden gesehen, der so friedlich dalag, mit Ausnahme eines Neugeborenen vielleicht. Seine gespreizten Beine baumelten zu beiden Seiten der
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