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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Hängematte herab. Seine Füße waren nackt; daneben standen geduldig und dienstbereit seine hohen Lederstiefel. Das weiße Hemd, das er trug, war am Hals geöffnet und ließ die zarten schwarzen Brusthaare erkennen, die sich unter dem Stoff hervorkräuselten. Im Schlaf hatte er einen Arm unter den Kopf
gebogen, während der andere in einer dramatischen Geste quer über der Stirn lag. Lang und gerade war seine Nase, schmal und breit sein Mund. Und so reglos lag er da, dass er, bis auf die schwache Andeutung eines leise sägenden Schnarchens, ebenso gut hätte tot sein können.
    Elias, sein Hausbursche mit den gierigen Augen, hatte verärgert die Unterlippe vorgeschoben, als er von July dazu genötigt wurde zu verraten, dass Robert Goodwin in der Mittagshitze stets auf seiner Veranda schlief. Denn der Aufseher hatte den Hausburschen gebeten, sein behagliches Ritual geheim zu halten, damit nicht irgendwelche Neger erführen, dass er zu Hause war, und ihn mit Miet- oder Lohnstreitigkeiten behelligten. Doch indem sie Elias so fest am Ohr gezogen hatte, dass es sich anfühlte, als wolle sie es gleich ganz abreißen, hatte July ihm das Geheimnis abgerungen – denn sie wollte, dass der Aufseher allein war, wenn sie kam, um sich sein Buch anzusehen.
    Lag es an den lärmenden Spottdrosseln oder an dem innigen Blick, den July auf ihn gerichtet hatte, dass Robert Goodwin sich bemüßigt fühlte, langsam eines seiner Augen zu öffnen, um zu erkunden, was ihn da in seiner Mittagsruhe störte? Als er die über ihn gebeugte July sah, wäre er bei dem Versuch, sich aufzurichten, beinahe aus der Hängematte gefallen. Natürlich war er überrascht – denn nicht nur blickte July mit einem hübschen Lächeln auf ihn herab, sie sah so vornehm aus. Ihr Kopftuch war nicht schäbig, sondern ihr bestes blaues. Und ihr Kleid – ein abgelegtes von der Missus – war lange gefältelt, genäht und bestickt worden, bis sich die rosa, blauen, grünen und malvenfarbenen Blumen auf dem Baumwollstoff des Rockes, die gebauschten Ärmel und das Weiß des Schulterkragens so gefällig um sie legten, dass sie den Anblick einer seltenen exotischen Schönheit bot.
    Er stand auf und stopfte sich hastig das Hemd in die Hose. »Miss July, hast du eine Botschaft für mich?« Mit der Hand fuhr er sich durch das zerzauste Haar. Offenbar machte er sich
Sorgen, dass es nach dem Schlaf nicht gerade vorteilhaft aussah – und das stimmte auch, denn mehrere Büschel standen ab wie Borsten.
    »Nein, Massa«, sagte July, »bin gekommen, mir das Buch anzusehen.«
    Benommen wie ein kleiner Junge, den man vor dem Sonnenaufgang geweckt hat, fragte er: »Das Buch?«
    »Mit Bildern von Schottland«, erinnerte ihn July.
    »Natürlich, natürlich«, sagte er. »Verzeih mir. Die Spottdrosseln – in dem Baum da gibt es zwei davon – haben so schön gesungen, dass ich für einen Moment eingenickt bin.«
    »Ja – das machen die wirklich gern, singen«, sagte July. Während er, als sähe er sie zum ersten Mal, einen langen Blick über sie hinweggleiten ließ – von den Zehenspitzen ihrer unbeschuhten Füße bis zum Scheitel ihres verhüllten Kopfes. Dann gelang es ihm gerade noch, die Worte »das Buch« zu wiederholen, ehe ihn sein ganzer Atem und sein halber Verstand verließen.
    Sogleich blickte er sich um, als suche er jemanden, der ihn retten könnte. So verlegen wurde er, dass er July nicht länger ins Gesicht blicken und gleichzeitig sprechen konnte. Als er den Mund aufmachte, um zu sagen: »Bist du … bist du…?«, blickte er auf seine nackten Füße. Als er von Neuem ansetzte, diesmal mit größerer Klarheit: »Miss July, bist du …?«, versuchte er, die Spottdrosseln im Baum zu entdecken. Und als er schluckte, um endlich herauszubringen: »Bist du allein?«, rang er die Hände, was seine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Als July mit einem fröhlichen »Ja« antwortete, wäre der Mann fast in Ohnmacht gefallen.
    Plötzlich kehrte er sich ab, um ins Haus zu gehen. Dabei sagte er: »Ich habe es irgendwo hier drinnen. Es kann ein Weilchen dauern, bis …« Dann drehte er sich um und sah July neuerlich an. Erst als er sich auf die Lippen gebissen hatte, um alle seine Kräfte zu sammeln, nahm er seinen barfüßigen Gang wieder auf.

    July folgte ihm dicht auf den Fersen durch die Tür.
    »Habt Ihr viele Bücher über Schottland, Massa?«, fragte sie, als sie in seinem kleinen Wohnzimmer umherschlenderte. Sie blieb stehen, um sich ein Schränkchen anzusehen, auf dem eine

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