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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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diese Weise bewegten sie sich durchs Zimmer. Es war schon komisch.
    Doch July, geschickt im Rattenfang, hatte den Mann bald in die Ecke gedrängt. Er streckte den Arm aus, um sie abzuwehren, und wiederholte mit keuchendem Atem: »Mein Vater, mein Vater, mein Vater«, bevor er seine dringende Bitte schließlich mit den Worten beschloss: »Mein Vater wäre nicht damit einverstanden. «
    »Aber Euer Papa, der is’ doch nich’ hier«, sagte July sanft.
    »Mein Vater«, fuhr er fort, »empfindet höchste Verachtung für weiße Männer, die Negerinnen gegenüber ihre Stellung missbrauchen.«
    »Bin ’ne Mulattin, keine Negerin nich’. Es is’ nich’ unrecht, Massa.«
    »Mein Vater hat mich hergeschickt, damit ich Gutes tue. Er ist ein rechtschaffener Mann.«

    »Er wird’s doch nie erfahren«, sagte July fast fröhlich. Aber an der Art, wie er sie ansah, erkannte July, welche Angst den weißen Mann peinigte.
    »Ich sehe meinen Vater vor mir, und ich darf es nicht tun.« Flehend hob er den Kopf gen Himmel und sagte: »Ich werde dieser Verführung nicht erliegen, Vater, ich werde ihr nicht erliegen.«
    Und July sah zu der Stelle auf, wo er seinen Papa sah, und sagte: »Aber da is’ doch gar keiner.«
    »Bitte geh, Miss July.«
    »Euer Papa will, dass Ihr freundlich zu den Negerinnen seid, Massa«, sagte July und rückte einen großen Schritt näher auf ihn zu.
    »Nein, Miss July. Bitte geh jetzt. Bitte, bitte, bitte, ich flehe dich an. Du bist zu schön, du bist zu gut …« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, und der Rest seiner Worte verlor sich im Ungefähren.
    Nun war es an July, dass ihr der Atem stockte. Denn der weiße Mann fand, dass sie schön war. Der weiße Mann fand, dass sie gut war. Sie stürzte sich auf ihn, um ihn an den Schultern zu packen, denn der Lohn lag in zu greifbarer Nähe, als dass July aufgeben durfte. Aber so heftig stieß der Aufseher sie von sich, dass sie beinahe hingefallen wäre.
    »Bitte, Miss July, bitte geh jetzt.« Dann fuhr er sich mit den Fäusten ins Haar, als wolle er sich ganze Büschel davon ausreißen, und jammerte: »Hilf mir,Vater, hilf mir,Vater«, bevor er in seiner Ecke zu Boden sank und wie ein Kind schluchzte.

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    Geneigter Leser, ich muss dir eine Wahrheit zuflüstern. Komm, leg dein Ohr ganz dicht auf diese Seite. Beug dich noch ein bisschen näher herab. Denn es drängt mich, aufrichtig über das letzte Kapitel zu sprechen, das du gerade gelesen hast. Geneigter Leser, hörst du mir auch zu? Dann will ich dir leise eine Tatsache verraten: So haben sich weiße Männer auf dieser karibischen Insel normalerweise nicht verhalten.

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    Seit jenem Tag ließ Robert Goodwin July nicht mehr aus den Augen. Wenn sie auf den Stufen der Veranda saß, eine Orange verzehrte und sich die klebrigen Finger ableckte, sah sie ihn – verzaubert, reglos – am Ende des Gartens, rittlings auf seiner grauen Stute. Solange die Sonne hoch am Himmel stand, kam er nicht in ihre Nähe, und nie grüßte er sie mit Namen. Doch sie überraschte ihn dabei, wie er, in Träumen versunken, mit offenem Mund ihre sich wiegenden Hüften angaffte, wenn sie den langen Pfad zu den steinigen Versorgungsfeldern hinunterging, um, statt die Grube in der Nähe der Küche zu benutzen, heimlich dort ihr Geschäft zu verrichten. Und wo immer er sie antraf – im Garten, auf der Veranda, auf dem Weg zur Küche, auf einem Pfad –, überall, wirklich überall, wo er sie allein aufspürte, fühlte July das lauernde Verlangen des Aufsehers. Und, ach, wie seine blauen Augen funkelten! Nur die eingebildeten Befehle, mit denen sein Papa ihn quälte, rüttelten und schüttelten ihn wach, bis er seiner törichten Sehnsucht Einhalt gebot und wieder seinem Tagwerk nachging.
    Der Aufseher hatte ihr sogar sein Buch überlassen – das mit den Bildern von Schottland. July fand es vor der Tür ihrer Unterkunft. Und zwischen den Seiten mit dem Haus ihres Papas, das er ihr so freudig gezeigt hatte, lagen drei gepresste rosa Immergrün, dünn wie Gaze.
    Dann, eines Abends nach Sonnenuntergang, als alle Schatten sich verzogen hatten, kam July zurück vom Garten, wo sie die vom Wind herabgewehten Schoten des Tamarindenbaums aufgesammelt
hatte. Da hörte sie einen Palmenstrauch keuchen. »Miss July«, rief es dringlich. Als sie sich umdrehte, wurde sie vom Kerzenlicht einer Laterne geblendet, die hoch in der Luft schwang. Sie wusste, dass er es war, musste sich aber anstrengen,

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