Das lange Lied eines Lebens
sein Gesicht zu erspähen, das immer wieder von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er streckte die Hand aus, spreizte die Finger und beschwor sie: »Bitte, steh ganz still, Miss July, ganz still.« July öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, aber er befahl: »Bitte, sprich nicht.«
Als sie langsam die Arme sinken ließ, fiel die Handvoll Tamarindenschoten, die sie aufgesammelt hatte, herab. Sie stemmte die Füße in den Boden, um, so gut es ging, stillzustehen, hob das Kinn und starrte ins Licht der Laterne. Er hielt die Laterne so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß wie Hühnereier leuchteten. Und obwohl die Dunkelheit sein Gesicht verhüllte, ruhte sein Blick doch mit solcher Innigkeit auf ihr, dass sie das Gefühl hatte, er liebkose sie mit den Fingerspitzen.
Sein Blick streifte ihre Stirn, streichelte ihre Nase, berührte ihre vollen Lippen und glitt an ihrem Hals entlang, bevor sein spürbarer Druck auf ihren Brüsten verweilte. Dann flüsterte Robert Goodwin: »Es ist Unrecht, ich weiß, es ist Unrecht, aber ich kann nicht anders.«
Plötzlich warf er die Laterne zur Seite, trat heraus und umfasste Julys Taille. Er war heiß wie ein Backofen. July fragte sich noch, ob sie ihn zurückstoßen oder seine Umarmung erwidern solle, als er sie schon fortschleuderte. Sie stolperte, richtete sich wieder auf und wollte rufen: »Vorsicht, wär fast gefallen«, doch das Geräusch seines Weinens brachte sie zum Schweigen. Sie hob die Hand, um sein Gesicht in der Dunkelheit zu finden. Seine Wange fühlte sich feucht an. Als er ihre Fingerspitzen spürte, legte der Aufseher seine Hand auf die ihre. »Es verstößt gegen alles«, sagte er. »Aber, Miss July, du musst wissen, dass ich mich in dich verliebt habe. Ich liebe dich.« Und er küsste zärtlich ihre Handfläche, ehe er sich von ihr losriss und in der Dunkelheit verschwand.
Es sollte jedoch einige Wochen dauern, bevor July Robert Goodwin wiederbegegnete. Sie saß gerade in der äußersten Ecke der Veranda, wo eine leichte Brise gelegentlich etwas Kühlung in die schwüle, reglose Luft fächelte, und flickte die Unterwäsche ihrer Missus – die Ratten hatten alle verschwitzten Stellen herausgenagt –, als der Aufseher aus dem Haus trat und sie erblickte.
July dachte, der Aufseher würde sie nur anstarren, denn es war helllichter Tag, und hob die Augen, um zu ihm aufzusehen, fuhr aber fort, an den unappetitlichen Wäschestücken herumzusticheln. Erst als sein fragender Gesichtsausdruck sich in ein breites Lächeln des Wiedererkennens verwandelte und er auf sie zuzugehen begann, war sie über sein Nahen so erstaunt, dass ihr die Nadelarbeit aus der Hand und über das Geländer der Veranda rutschte. Gleich darauf war er bei ihr. Er zog sie hoch, dann sah er sich rasch nach einem Ort um, wo er sie verstecken könnte, als wäre sie Diebesgut, bevor er sie schließlich die Verandastufen hinunterführte und um die Ecke des Hauses geleitete, wo sie in der Verschwiegenheit eines großen Bambusgehölzes Schutz suchten.
Als sie im Verborgenen beieinanderstanden, hob er, indem er seine beiden Hände um ihre Wangen legte, ihr Gesicht zu sich auf. »Sieh mich an, Miss July. Sieh mich an«, sagte er. Sogleich begann July sich seinem Griff zu entziehen, denn die Dringlichkeit seines Tonfalls alarmierte sie. Doch er hielt ihr Gesicht fest. »Hör mich an, hör mich an«, fuhr er fort, bis er ihre erschrockene Miene bemerkte. Da ließ er sie endlich los.
Er zwinkerte, um sanfter, lächelte, um gefasster zu wirken, trat zurück und hob die Hände, um zu beweisen, dass er ihr nichts zuleide tun wollte. Doch bald schon überkam ihn wieder seine jungenhafte Aufregung, und er sagte: »Ich habe mir einen Plan ausgedacht, den ich eben in die Tat umzusetzen begonnen habe.« Und damit nahm er wieder ihr Gesicht in die Hände. »Oh, Miss July, ich habe einen Plan, der bedeutet, dass
wir zusammen sein können. Einen Plan«, fuhr er fort, »damit ich dich haben kann. Einen Plan, gegen den mein Vater keine Einwände haben wird. Ja, er wird sich darüber freuen. Er wird Gott danken. Ich glaube … ich glaube wirklich, dass mein Vater dem Allmächtigen dafür danken wird, dass er seinen Sohn von dieser Versuchung erlöst hat.«
Roberts blaue Augen waren groß wie Monde. Einen langen Moment starrten sie auf July herab – bis er sich vorbeugte, um sie zu küssen. Seine Lippen berührten Julys Mund so sachte, dass sie von seiner plötzlichen Zärtlichkeit wie verzaubert war. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher