Das lange Lied eines Lebens
blaue Vase mit einem halb verwelkten Sträußchen rosa Immergrün stand. Und daneben war ein Miniaturporträt in einem Metallrahmen platziert, nicht größer als ein Medaillon, wie eine Missus es um den Hals trug. Das Bild zeigte einen streng dreinblickenden weißen Mann mit buschigem Backenbart, der sie anstarrte. July beugte sich vor, um die Einzelheiten näher zu betrachten – er trug ein Kreuz am Hals und einen Ring an der Hand, aber mehr konnte sie nicht erkennen, denn sie musste sich wieder aufrichten, als der Aufseher sagte: »Nein, ich habe nur das eine. Mein letzter Arbeitgeber hat es mir geschenkt. Weiß auch nicht mehr, warum. Aber darin sind Bilder von diesem Land. Schottland. Ah, hier ist es ja.«
Mit äußerster Sorgfalt nahm er das Buch vom Regal – zog es Zentimeter um Zentimeter, Stückchen um Stückchen heraus. July merkte bald, dass er Angst hatte, es könnte eine aufgeschreckte Schabe herausfallen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, damit er nicht mitbekam, wie amüsant sie das fand. »Ja, hier ist es«, sagte er. Und er trug das Buch zu seinem Schreibtisch, um es dort abzulegen.
»Weißt du, woher dein Vater kam?«, erkundigte er sich.
»Mein Vater?«, fragte July, als sie durchs Zimmer ging und sich dicht hinter ihn stellte.
»Ja, du hast doch gesagt, dass dein Vater Schotte war.«
»Ach, mein Papa«, sagte July. Als sie die Worte herausprustete, sah sie, wie ihr Atem das sich kräuselnde schwarze Haar auf seinem Nacken bewegte.
»Ja, dein Papa.«
»Ja, mein Papa war Schotte.«
»Nun, dann lass uns mal sehen, was wir hier haben«, sagte er.
Er blätterte das Buch rasch durch, und als July sich hinabbeugte, um ihm über die Schulter zu blicken, drückte sich ihre Brust ganz zufällig gegen seinen Arm. Einen kurzen Augenblick zögerte er weiterzublättern, fuhr dann aber damit fort. Bei der Zeichnung eines Schlosses hielt er inne.
July rückte näher heran und drängte ihren Körper enger an seinen. Dabei wies sie auf das Bild und fragte: »Hat mein Papa da gewohnt?«
Stotternd antwortete er: »Das … das… das bezweifle ich. Das ist ein Schloss.«
Bei dem kurzen Lachen, das er diesen Worten folgen ließ, rieb sich ihr Körper noch fester an seinem. »Es gibt viele Schlösser in Schottland, aber ich bezweifle, dass Plantagenaufseher von den Westindischen Inseln darin wohnen.« Und als er sich umwandte, um sie anzusehen, streiften seine Lippen fast ihre Wangen.
Sogleich fing er wieder an, ganz geschäftsmäßig die Seiten durchzublättern. Das Buch enthielt nur wenige Bilder, die meisten Seiten waren angefüllt mit dicht gedruckten schwarzen Wörtern. Aber dann stieß er auf die Zeichnung eines kleinen Hauses mit einigen Schafen davor. »Das käme schon eher infrage«, sagte Robert und hob das Buch ein wenig hoch, damit July besser sehen konnte. July fuhr mit dem Finger am Dach und am Schornstein entlang und fragte: »Das Haus von meinem Papa?«
»Nun, nicht unbedingt dieses Haus… aber… aber…« Robert starrte July, die das Bild betrachtete, gebannt an.
»Und was is’ ’n das da?«, fragte sie und deutete auf die Schafe.
»Das sind Schafe«, antwortete er.
Und July, die diese wolligen Geschöpfe nicht kannte, sah ihm mitten ins Gesicht und fragte: »Was is’ ’n das, Schafe?«
Das Buch fiel mit einem Knall auf den Tisch. Die Hände des Aufsehers konnten es nicht länger halten, denn sie waren kraftlos
geworden und zitterten. July fühlte, wie sein Atem gleich einem Windstoß immer schneller ging. Wie im Zorn presste er sie wild an sich. Ehe sie sich’s versah, hatte er sie auf den Mund geküsst. Seine feuchte, lockere Zunge schleckte sie ab, als verschlinge er ein fettiges Hühnchen.
July war überglücklich. Miss Clara, Miss Clara, setz Wasser auf, denn Miss July Goodwin kommt zum Tee! Sein anschwellendes Geschlecht presste sich fest gegen sie, und sie wusste, was sie zu tun hatte: Sie musste diesen sanften jungen weißen Mann daran herumführen.
Doch da riss sich der Aufseher heftig von July los. »Es tut mir leid, es tut mir leid.Verzeih mir. Es tut mir leid«, sagte er und durchquerte rasch das Zimmer. Manch einer hätte gar gemeint, dass er rannte. July glaubte zweifellos selbst daran, dass sie hinter ihm herjagte, als sie ihm folgte und ihn beschwor: »Nein, nein, schon gut, Massa.« Doch jedes Mal wenn sie sich näherte, trat der Mann einen Schritt zurück, weg von ihr. Was für ein Tanz sollte das denn sein? Sie trat vor, und er sprang zurück? Auf
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