Das lange Lied eines Lebens
fiel keine Erwiderung ein. Doch da rief die Missus aus nächster Nähe: »Marguerite, Marguerite«, und half ihr aus ihrer Verlegenheit. Denn sie und der Aufseher sprangen auseinander wie Bohnen in einem Feuer. Und als er sich duckte, um sich wie ein Schleichdieb zu Boden zu kauern, flüsterte er: »Bald, Miss July, bald.«
Er schlüpfte davon und war bereits außer Sicht, als die Missus um die Ecke bog und July ganz allein antraf. »Ach, da bist du ja, Marguerite«, sagte sie. July begann, nach der Näharbeit zu suchen, die ihr ins Gebüsch gefallen war, und stammelte ihrer Missus etwas von der Brise vor, die ihr die Unterwäsche entrissen habe; wie ungeheure Vögel seien die Wäschestücke durch den Garten geflattert.
Doch Caroline Mortimer brachte sie zum Schweigen, indem sie mit den Armen vor Julys Gesicht herumfuchtelte. »Jetzt nicht, jetzt nicht, jetzt nicht. Nein, nein, nein, nein, nein, es gibt zu viel zu tun«, quiekte ihre Missus. »Oh, Marguerite, so viel gibt es zu tun.« Und dann begann die Missus an ihren gespreizten dicken Fingern abzuzählen, welche Arbeiten erledigt werden mussten. Es galt, rosa Seidensatin aufzutreiben, helle Nadelspitze zu bestellen, Pantoffeln mit Bändern zu verzieren, ein modisches Kleid mit Bischofsärmeln anzufertigen. »Und wo sind die gelben Glacéhandschuhe?« Das Schwein musste geschlachtet werden, ebenso alle Hühner, ein Kuchen
gebacken, »aber nicht von Molly«, Karten gedruckt, Kerzen gekauft …
Erst Julys spöttischer Blick veranlasste ihre Missus, zwischen zwei Atemzügen eine Pause einzulegen und zu fragen: »Was, hast du denn nicht verstanden?« Dann seufzte sie laut, denn von all der Hektik an einem so heißen Tag war die Missus ganz aufgedreht, und fuhr fort: »Oh, ich hab’s ja noch gar nicht gesagt.« Sie kicherte. »Ich hab’s dir ja noch gar nicht gesagt.« Sie legte die Hand auf Julys Arm. »Ich hab ja solche Neuigkeiten, Marguerite. Vor einer Minute habe ich seinen Antrag angenommen.« Sie lächelte breit und sagte: »Ich werde heiraten. Ich werde Robert Goodwin heiraten.«
VIERTER TEIL
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Irgendwo, geneigter Leser, gibt es ein Ölgemälde, ein Porträt auf einer rechteckigen Leinwand (etwa eine Armeslänge breit), das den Titel Mr und Mrs Goodwin trägt. Dieses Bildnis war von der frisch verheirateten Caroline Goodwin bei einem bekannten Künstler in Auftrag gegeben worden, der in der Stadt Falmouth wohnte. Der Maler – ein gewisser Mr Francis Bear – fertigte in seinem offensichtlich kurzen Leben zahlreiche Porträts von jamaikanischen Pflanzern und ihren Familien an; in der Tat war es früher einmal Mode gewesen, einen Bear im Herrenhaus zu haben.
Im Salon auf Amity saßen die Porträtierten dem Maler mehrere Wochen lang Modell, ohne sich zu rühren oder einen Mucks von sich zu geben, ganz wie er es verlangte. Dabei schwitzten sie ihre besten Kleider langsam, aber stetig um mehrere Farbschattierungen dunkler. Was aus dem Porträt geworden ist, weiß ich nicht. Es ging verloren oder wurde gestohlen, vielleicht sogar zu Fetzen zernagt von einigen der vielen gefräßigen Geschöpfe, die auf dieser karibischen Insel leben. Solltest du jedoch zufällig auf dieses Porträt stoßen, Mr und Mrs Goodwin , so lasse es dir bitte angelegen sein, es sorgfältig zu studieren – denn in diesem Kunstwerk liegt das nächste Kapitel meiner Erzählung verborgen.
Im Vordergrund dieses prächtigen Gemäldes siehst du in aufrechter Haltung Robert Goodwin stehen. Seine Pose ist lässig, ein Bein ist vors andere gekreuzt, während sein Ellenbogen auf der Lehne des Stuhles vor ihm ruht. Er trägt ein leichtes Leinenjackett und eine Weste aus cremefarbener Seide, die mit einem filigranen grünen Blumenmuster bestickt ist. Auf dem Kopf sitzt kein Hut, und mögen ihm auch sein lockiges Haar
und sein gesträubter Backenbart das distinguierte Aussehen eines Gentlemans verleihen, so lassen sie ihn doch um einiges älter erscheinen, als er ist.
Er ist noch kein Jahr verheiratet, und sein Gesichtsausdruck ist heiter und gelassen. Doch sieh genauer hin, denn der Glanz seiner blauen Augen ist reine Erleichterung, die Stimmung hinter seinem milden Lächeln Genugtuung; denn endlich ist Robert von jenem Zustand erlöst, den er aus Ehrerbietung gegen seinen guten Vater unter großen Schmerzen bis zu seiner Hochzeitsnacht intakt gehalten hatte – den Zustand der Jungfräulichkeit!
Allerdings war es nicht Caroline, die sie ihm genommen hatte. Denn
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