Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
runtergefallen.«
»Also«, fährt Papa fort, »nachdem ich mich aufgerappelt und das Sägemehl abgeschüttelt hatte, bin ich wieder aufgestiegen mit der Gewissheit, das ist mein Pferd! Wenn ein Pferd einen guten Charakter hat, darf es ruhig viel Temperament haben. Zudem ist dieser Fuchs hoch und kräftig gebaut, er hat ausdrucksvolle Augen und seine Mähne und der Schweif glänzen wie braun-rötliche Seide.«
»Du Schwärmer!« Mama streicht Papa über den Nacken. »Woher weißt du denn, dass der Mars einen guten Charakter hat?« »Das spürt man. Wirst sehen. Wenn er sich gut entwickelt, beginnt auch ihr alle zu reiten!«
»Was, du, Mama, auch?«
Seit wir den Mars haben, ist Papa wie früher. Mama darf ihn jetzt auch wieder filmen oder fotografieren. Am liebsten hat er’s, wenn er auf dem Pferd sitzt. Wir haben extra eine Polaroidkamera gekauft. Gestern sind mir zwei tolle Aufnahmen gelungen: Mars im Paddock. Koni musste den Fuchs in die Ecke mit dem gelben Busch treiben, beruhigen und dann schleunigst aus dem Bild treten. Das eine Foto habe ich neben dem Bett ans Weihwassergeschirrchen geklemmt, das andere ist in meinem Tagebuch, darunter habe ich geschrieben: Alles Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. Als ich das Mama zeige, reagiert sie komisch: »Jaja, schön.«
»Gefällt dir der Spruch nicht? Den hab ich von Papa.«
»Eben.«
»Aber Papa ist doch wieder glücklich, oder?«
»Wenn er bloß nicht zu glücklich wird.«
»Was meinst du damit?«
»Äch, nix. Isch nur es Wizzji gsi.«
Aristoteles und der Spatz
Elvira hält die Hand auf meine Stirn: »Febbre.«
Gut so. Ich bin krank, kann also nicht geprüft werden, und also muss ich nicht nach Ingenbohl, in dieses doofe Töchterinstitut! Gerade zur richtigen Zeit hat Gott meine Bitte erhört. »Ma no«, versichere ich Elvira, »brauchst mein Fieber gar nicht erst zu messen, ich verspreche dir, im Bett zu bleiben, promesso!«
Mama ist besorgt. Sie bringt mir Zwieback und Kamillentee. Papa ist da ganz anders. Für ihn grenzt das Getue um die asiatische Grippe an eine Hysterie. Er lacht nur darüber, dass es nach Elvira und Koni nun auch mich erwischt hat. »Hauptsache«, sagt er, »du bist am Mittwoch wieder gesund.«
Wenn ich an die Gymiprüfung in Ingenbohl denke, kommt mir immer der gleiche Satz in den Sinn: Lass diesen Kelch an mir vorüber gehen!
Aber offenbar darf das ein Kind nicht sagen. Schon während der Nacht hat die Schwitzerei aufgehört, und heute Morgen habe ich beim Frühstück einen so unmäßig gesunden Appetit gehabt, dass ich am Nachmittag wieder in die Schule muss. Zur Strafe Gottes kommt gleich noch die Freude der Eltern hinzu!
Der Prüfungstag in Ingenbohl ist furchtbar: Nur schwarz gekleidete Klosterfrauen, lange dunkle Gänge und Mama, die bei der Begrüßung der Frau Oberin von früher schwärmt. Dabei hat sie hier damals mehr geweint als in ihrem ganzen Leben zuvor.
»Da rein, meine Liebe!«
Eine Dicke, deren Kinn übers steife Weiß schwabbelt, schiebt mich in ein Schulzimmer. Mama hält mich kurz zurück. Ohne zu wollen, streife ich ihren Abschiedskuss auf der Wange mit der Hand ab. Ich lächle den Mädchen zu. Jedes sitzt allein an einem Pult. Kein Lächeln zurück, nirgends. Wenigstens sind sie alle auch sonntäglich angezogen, so muss ich mich in diesem braven Plisseejupe weniger genieren.
»Liebe Anwärterinnen, wir hier drin beginnen gleich mit dem Aufsatz, gefolgt vom Diktat. Danach werden die Räume getauscht, und ihr kommt zu Schwester Agatha, bei ihr geht es mit Rechnen weiter. Ich hoffe, das Aufsatzthema sagt allen zu, es heißt:
Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen
. Kann mir jemand, bevor wir anfangen, vielleicht sogar sagen, von wem diese Erkenntnis stammt?«
»Von Gott!«
Die Klosterfrau schaut mich zwar freundlich an – aber Gott stimmt nicht. Ich spüre alle Blicke auf mir.
»So falsch«, und sie tritt etwas näher, »so falsch ist das gar nicht. Es sind Aristoteles’ Worte. Wir alle wissen jedoch, dass auch bei einem Aristoteles die Weisheit allein von Gott kommt. In diesem Sinne wünsche ich euch für die heutige Prüfung Gottes Segen.«
Je mehr ich einen tollen Anfang suche, desto weniger fällt mir einer ein. Ich kann schon gar nicht mehr richtig denken, so fixiert bin ich auf die ersten Worte, auf eine zündende Idee.
Ringsum beginnen sie zu schreiben.
Und auf meinem Blatt steht erst
Ich
…
»Beginnt einen Satz niemals mit Ich! Wer mit Ich beginnt, nimmt sich zu
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